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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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aufgeschnitten hätte, etwas vom Darm entfernt werden, eine Operation, die er bereits »Kelloggs Stich« nannte. Aber was war das?
    Lightbody, William F.
    Der Name war durchgestrichen. War seine Operation für den heutigen Tag abgesagt? Der Doktor war nicht in Kenntnis gesetzt worden. Er zog verärgert die Augenbrauen in die Höhe. Der Mann war ein besonderer Fall- der aufsässigste und rückfälligste Patient, den er je gehabt hatte, und einer der kränksten. Ganz entschieden. Aber wahrscheinlich handelte es sich um eine Laune des Zeitplans – er konnte sie schließlich nicht alle gleichzeitig operieren. Er käme morgen dran oder übermorgen oder am Tag danach. Das war nicht so wichtig. Dennoch nahm er sich vor, Dab danach zu fragen.
    Während er den Apfel kaute und sich wieder seinem Text zuwandte und hier und da einen Satz umschrieb – er änderte »verwesend« um in »verwest, stinkend und moribund« –, konnte er den Nagel der Gereiztheit, den er in sein Hirn gebohrt hatte, nicht wieder ganz herausziehen. George. Charlie Soundso. Der alte Bock von einem Hochstapler mit dem gefärbten Bart, der sich die Sache ausgedacht hatte. McMickens, der Pfleger, der mit seinem Unsinn über Gehälter und Gewerkschaften das Personal aufstachelte. Lightbody. Die Vorträge. Die Artikel. Die kleinlichen Details, die der tägliche Betrieb des San mit sich brachte – mein Gott, sie waren noch nicht einmal in der Lage, ohne ihn mit der Schimpansin fertig zu werden. Manchmal hatte er das Gefühl, das alles drücke ihn nieder, quäle ihn, bis seine Nerven so empfindlich waren wie die eines Koffeinsüchtigen.
    Während er den Apfel in der Hand drehte und mit seinen kräftigen weißen Zähnen in das makellose Fruchtfleisch biß, konnte er nicht verhindern, daß wehmütige Gedanken an frühere Zeiten im Bellevue in ihm aufstiegen – damals war das Leben viel unkomplizierter und ebenso anregend wie jetzt gewesen, wenn nicht noch anregender. Das waren Zeiten. Keine Georges, keine griesgrämigen Angestellten oder Amok laufende Schimpansen. Nein. Damals hatte es nur die medizinischen Texte gegeben, die Leichen, die Vorlesungen, die dankbaren genesenden Patienten. Schon damals hatte er frugal gelebt, und es hatte ihm nicht geschadet. Überhaupt nicht. Im Lauf von zwei Jahren hatte er gut fünfzehn Pfund zugenommen aufgrund einer Diät aus Hafergrütze, Äpfeln, Grahambrot und reinem Quellwasser – und das zu einem Preis von sechzehn Cent am Tag. Ja, dachte er und biß ein letztes Mal seufzend in den Apfel, das waren noch Zeiten. Dennoch, es hatte keinen Zweck, sich dem Gestern hinzugeben, wenn es hier und heute so viel zu tun gab. Damals war er ein gemeiner Soldat gewesen in dem großen Krieg, bei dem es darum ging, den Verdauungskanal zu retten, die Rasse zu verbessern und die unendlichen Herden davor zu bewahren, hingeschlachtet zu werden, und jetzt war er General – mit vier Sternen und nach einem fünften strebend –, und niemand konnte ihn aufhalten außer er selbst. John Harvey Kellogg erhob sich vom Stuhl, dehnte und reckte sich ausgiebig und rief eins der Kinder, damit es ihm das Fahrrad aus dem Kutschenhaus bringe.
    Dab erschien pünktlich um sieben in Begleitung des neuen Mitarbeiters, A.F. Bloese – ein finsterer, steifer, kleiner Mann mit einem Jungengesicht (oder ein Junge mit einem Männergesicht), der zufällig ein meisterlicher Stenograph, Schreibmaschinenschreiber und Kodifizierer der geschmeidigen Symbolik der Kurzschrift war. Ein wahrer Fund. Ja, Sir. Dab bildete den Kontrast, aufgeschwemmt und schnaubend, eingewickelt wie eine ägyptische Mumie in Schals, Überzieher, Handschuhe, Pullover und Kummerbunde. Der Mann war ein Fiasko, eine Blamage. Der Doktor stand im Vestibül der »Res« und betrachtete ihn kalt: Der Mann mußte zu einer physiologischen Kur gezwungen werden. Um seiner selbst und auch um der Wirkung nach außen hin willen. Hier war der Doktor, die Verkörperung eines tatkräftigen Lebens, und wie ein Schatten folgte ihm, wohin immer er ging, dieser schwitzende Fleischberg, dieser, dieser – aber genug davon. Die Zeit verrann. »Morgen, Poult«, sagte der Doktor, zog ein Paar weißer Handschuhe an und schlang schwungvoll einen weißen Schal um den Hals – Geschwafel über arktische Zustände, hinterherflatternde Rockschöße und dergleichen kamen für ihn nicht in Frage. Nicht, solange die Temperatur nicht um weitere zehn Grad sank und die Wand aus Eis wiederkehrte, die den Lake Michigan geschürft

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