Willkommen in Wellville
Frauen und Kindern in diesem Land – ja, auf dieser Welt –, die nicht wissen, was sie ihrem eigenen Körper antun, diesem Tempel von unschätzbarem Wert, diesem Zeugnis von Gottes Vertrauen in uns? Ihr alle kennt die Übel falscher Ernährung, ihr alle kennt die Schwächen der Fleischesser, der Trinker, der Koffeinsüchtigen, und ihr alle wißt, wie unerbittlich die Natur sein kann und ist – und ich sage euch, meine Freunde und Angestellten, meine Mitarbeiter, meine Mitstreiter: Er fiel der Autointoxikation zum Opfer.«
Eine einzige Lampe brannte am anderen Ende des Saals. Der kalte Wind rüttelte an den Fensterscheiben, und die Wolken zogen an dem Gebäude vorbei, als wäre es eine Arche auf hoher See. Der Doktor streckte die Arme dem Licht entgegen, stieg auf Zehenspitzen vom Podium herunter und sah mit blitzenden Augen jeden einzelnen im Raum an.
»Ja!« rief er schließlich. »Autointoxikation! Und dabei ein Mitglied dieses Personals, eingeweiht in die neuesten Erkenntnisse in punkto Aufklärung und Reform. Und was ist mit den anderen? Was ist mit den Legionen Unwissender, die sich im dunkeln abmühen, dazu verdammt, daß ihr Lebenslicht abrupt ausgeblasen wird, brutal und ohne Vorwarnung, in der Blüte ihrer Jahre? Was ist mit ihnen?« Wieder ließ er den Kopf hängen. Als er ihn erneut hob, schimmerten Tränen auf seinen Wangen. »Und ihr redet von«
- an dieser Stelle brach seine Stimme kläglich –, »und ihr redet von Geld. Vom schnöden Mammon. Von Gewinn. Ihr versammelt euch hier, unter den Portalen dieser Festung der Gesundheitsreform, dieser Bastion der Wahrheit, und ihr verlangt von mir, daß ich euch
- euch, die ihr gesund seid und das Wissen und die Disziplin besitzt, um euch diese eure Gesundheit zu erhalten bis in die goldenen Jahre eures produktiven und harmonischen Lebens – gewöhnliches Geld gebe.« Er riß die Hände hoch. »Glaubt mir, ich würde es tun, wenn ich es könnte. Ich weiß, wie wenig wir auch dem Erfahrensten unter euch zahlen können. Ich weiß um das asketische Leben der Lernschwestern in ihrem ersten Jahr, die nichts weiter bekommen als ein Dach über dem Kopf, die Schwesterntracht und die Möglichkeit, Wissen zu erwerben. Aber ist dieses Leben wirklich so unzumutbar? Kann ein Mensch den Preis des Wissens festsetzen – des Wissens, das euer und das Leben von Tausenden und Abertausenden anderer, weniger vom Glück Begünstigter retten wird? Ihr seid Missionare – ich bin ein Missionar –, und die ganze Menschheit ist unsere Mission. Könnt ihr einen Preis dafür festsetzen? Könnt ihr das?«
Des Doktors Stimme hallte durch den Saal. Eine volle Hälfte des Publikums weinte, Taschentücher wurden gezückt wie weiße Flaggen, die Kapitulation anzeigen. In der ersten Reihe hob ihm eine Schwester im zweiten Ausbildungsjahr das Gesicht entgegen, ihr Blick milde, die Backen naß, und ein verehrungsvolles Glühen erstrahlte auf ihren schlichten Zügen. Der Doktor räusperte sich und bedachte das Publikum mit seinem mitfühlendsten Blick.
»Ich beanspruche nichts für mich«, sagte er mit leiser Stimme. »Nicht einen Cent. Nichts. Ihr alle wißt das. Meine Zeit hier
- und ihr alle wißt, wieviel Zeit und Energie ich dieser Institution widme – gebe ich umsonst, freiwillig, freudig – Dienst an der Menschheit. Das ist mein Leben … und ich vertraue darauf, ich hoffe inständig, daß es auch eures sein wird.
Ich will euch nicht darum bitten, für euren verstorbenen Kameraden zu beten; Poultney Dab hätte es nicht gewollt. So wie ich ihn kannte, und unter uns ist heute niemand, weder Mann noch Frau, der beanspruchen kann, ihn besser gekannt zu haben als ich, hätte er euch ermahnt, seinen Namen voran in die Schlacht zu tragen und ihm zu folgen wie ein Regiment, das seinem Standartenträger folgt; vergießt keine Tränen für Poultney Dab, meine Freunde, sondern singt laut seinen Namen. Benutzt ihn als Schwert, als Lanze, als leuchtendes Symbol unseres heiligen gemeinsamen Kampfes …« Und dann begann der kleine, weißgekleidete Mann zu singen, seine Stimme wehrlos und gramgebeutelt. Die ersten Takte sang er allein, aber dann schwoll der Gesang an, die ganze Mannschaft verwandter Seelen im Saal stimmte mit ein, bevor er auch nur einmal Luft holte:
Vorwärts, christliche Soldaten,
Auf in den heiligen Krieg,
Jesus erwartet Taten
und daß ihr erkämpft den Sieg …
Und so verließ er das Podium, gab mit hocherhobenen Armen den Takt an, und die Hymne hallte bis
Weitere Kostenlose Bücher