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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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zu den Dachsparren hinauf, als er sich einen Weg durch das Meer der schmerzverzerrten Gesichter und nach ihm greifenden Hände zur Tür bahnte.
     
    Der Abend senkte sich über das San. Es war der Abend des Todestages von Poultney Dab, und Dr. Kellogg und sein neuer Sekretär, A.F. Bloese, arbeiteten noch immer. Der Doktor hatte wie gewöhnlich triumphiert, aber um was für einen Preis? Sein Magen war übersäuert, seine Gelenke schmerzten, seine Augen waren überanstrengt. Er hatte einfach zu viele Sorgen, zu viele Dinge bedrängten ihn, zu viele Hände griffen nach seinen Taschen. Trotz der streng physiologischen Lebensweise und der Stärke von Leib und Seele, die sie bewirkte, war er deprimiert. Müde. Überarbeitet. Und zudem befand sich das Jahr auf seinem schwarzen, zu Eis gefrorenen Tiefpunkt.
    Bloese, seine Züge wie glattgebügelt vor Konzentration, saß neben der Lampe an der Schreibmaschine und überarbeitete das morgendliche Diktat des Doktors. Es stürmte noch immer, und der Doktor, der im Augenblick etwas zerstreut war, hörte, wie der Wind sich in den Bäumen niederkauerte und verzweifelt wehklagte, wie ein dämonischer Liebhaber, der aus dem Grab auferstanden ist, um das Seine zurückzufordern. Er spielte mit seinem Federhalter. Schob eine Schere über die Schreibunterlage. Und da fiel ihm Florida ein. Miami Springs. Die goldene Sonne, die immerwährende Sonne. Palmen. Meeresbrisen. Sand. Miami Springs. Und wäre es nicht angenehm –?
    Es klopfte an die Tür.
    Bloeses Kopf fuhr hoch wie der eines Wachhundes.
    »Ich bin nicht da, Aloysius«, sagte der Doktor.
    Bloese stand auf und ging zur Tür, hielt die Eichenfüllung fest und sprach durch den Spalt. »Der Doktor ist nicht mehr da«, wiederholte er. »Er ist nach Hause gegangen«, und dann trat er flink hinaus in den Flur und zog die Tür hinter sich zu – aber Dr. Kellogg hatte -bereits mitbekommen, was sich dort zutrug. Eine Stimme erhob sich, eine Stimme, die ihn kratzte wie eine Egge, die über seinen Körper gezogen wurde: Es war die Stimme Lionel Badgers. Badger! Er hatte ihn völlig vergessen. Aber doch, jetzt, wenn er sich’s überlegte, schien ihm, als stünde etwas davon in seinem Kalender, daß Badger kommen, einen Vortrag halten und wieder einmal bleiben wollte – weiß Gott, wie lange.
    »Ich weiß, daß er da ist«, ertönte Badgers heiser nörgelnde Stimme.
    »Ich versichere Ihnen, Sir –« konterte Bloese.
    Der Doktor stellte sich Badgers großen, geschwollenen Kopf vor, umkränzt von einem roten Flaum von der Beschaffenheit von Schamhaar, die entzündeten Augen, den vorgeschobenen Unterkiefer. Das letztemal, als er dagewesen war, hatte er die Unverfrorenheit besessen, den Doktor ins Gebet zu nehmen, weil er Schuhe aus Tierhaut – das heißt Leder – trug, während sich er, Badger, sommers wie winters mit aus Hanf geflochtenen Sandalen zufriedengab. Lionel Badger – ein Fanatiker der schlimmsten Sorte, und wenn es einen Flagellanten in der vegetarischen Bewegung gab, dann war er es. Der Doktor schreckte zurück vor dem Gedanken, ihm gegenübertreten, ihn bei Laune halten oder was immer zu müssen. Nicht jetzt, betete er, nicht heute abend. Die Stimmen diskutierten im Flur, der Wind rüttelte an den Fensterscheiben, und dann erhob sich vor seinen Augen, deutlicher als zuvor, die Vision von Miami Springs in all seiner grünen und himmelblauen Weite. Organisierte Erholung ohne Ennui.
    Er brauchte eine Minute. Sechzig Sekunden, nicht länger. John Harvey Kellogg nahm das Telephon zur Hand und ließ sich mit Nichols an der Rezeption verbinden. »Nichols?« fragte er mit gesenkter Stimme für den Fall, daß Badger lauschte – der Mann hatte Ohren, scharf wie ein Hase.
    Angemessen salbungsvoll antwortete Nichols. »Ja, Sir, Dr. Kellogg?«
    »Rufen Sie bei mir zu Hause an und sagen Sie Mrs. Kellogg, daß sie und meine Schwester packen sollen, auch eine kleine Tasche für mich.«
    »Sir?«
    Einen Augenblick lang war er in einer Träumerei versunken, hörte er die Brandung leise rauschen. »Oh, ja – und reservieren Sie drei Schlafwagenabteile … Ja, bei der Michigan Central Line … Wir fahren durch bis Miami.«

8.
DER TAG DES WALDMURMELTIERS
    Zweiter Februar. Das Wetter war launisch. Im einen Augenblick brach eine laue, blasse, verwaschene Sonne durch die Wolken, um das San-Gelände in fahles Licht zu tauchen, im anderen schlossen sich dickbäuchige, trotzige Wolken wieder davor zusammen. Nur die Götter wußten, ob

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