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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Dr. Kelloggs Waldmurmeltier angesichts seines eigenen Schattens so erschrecken würde, daß es weitere sechs Wochen in seinem Bau schliefe, aber nachdem Will Lightboy fast drei Monate lang gleichbleibend graue, kalte Battle-Creek-Nachmittage ertragen hatte, betete er, daß es ein letztes Mal bewölkt sein möge. Nicht, daß er an diesen Unsinn wirklich glaubte, aber man wußte ja nie. Die Tiere schienen eine unheimliche Art zu haben, das Wetter vorherzusagen – Skunks und Waschbären, denen zwischen den Zehen ein besonders dichter Pelz wuchs, wenn ein strenger Winter bevorstand, Schwalben, die ihre Nester vor einem regenreichen Sommer höher bauten, Larven und Würmer, die vor einer Trockenheit tiefere Löcher gruben und so weiter. Der Bauernkalender verließ sich auf sie.
    Will beobachtete das zahme Wild des Doktors, wie es in kleinen Gruppen durch das Gehege wanderte; das wankelmütige Licht versilberte ihre Rücken, dann färbte es sie wieder dunkel, bis sie zu flimmern schienen wie Bilder auf der Leinwand in einem Lichtspieltheater. Er erinnerte sich an den Tag, als er und Miss Muntz, eingewickelt wie Eskimos, Seite an Seite auf der Veranda gelegen und den Tieren dabei zugesehen hatten, wie sie auf dem harten, gefrorenen Boden angestrengt nach Leckerbissen scharrten. Miss Muntz, das arme Mädchen, hatte sie süß gefunden, aber Will hatte sie damals so gesehen, wie er sie noch heute sah: als Mittel, die der Doktor zur Beförderung seiner Botschaft einsetzte, als Propagandainstrumente. Gleiches galt für die räudige Schimpansin und den trübsinnigen Wolf, den der Doktor in einem Käfig im Keller hielt und ausschließlich mit Brotkrumen fütterte, um die Fügsamkeit des Fleischfressers zu demonstrieren, wenn man ihm die Beute nahm. Oder für die weißen Kaninchen, die von Busch zu Busch sprangen und zufrieden ihren pazifistischen Unternehmungen nachgingen, und für die Weihnachtsgans, die es irgendwie geschafft hatte, des Doktors Kur zu überleben, und die auf einem Teich im Palmengarten glücklich schnatterte. Und natürlich auch für den Helden des Tages, das Waldmurmeltier.
    Zu Ehren dieses Nagetiers hatte Dr. Kellogg eine Einfriedung gebaut, auf der Wiese südlich des San, und sie »Waldmurmeltier-Wiese« genannt. Ein ordentliches, unauffälliges handbeschriftetes Schild machte die Stelle für den Neugierigen kenntlich. Das Ganze bestand aus einem über einen Meter hohen Maschendrahtzaun, der vermutlich weit in die Erde reichte, aus ein paar Felsen und Baumstämmen, die den Eindruck von Authentizität vermitteln sollten, und einem Betonbecken mit längst gefrorenem Trinkwasser. Der Bau selbst war offensichtlich von seinem Bewohner angelegt worden – einem Geschöpf, das Will noch nie mit eigenen Augen gesehen hatte. Als er im November angekommen war, war es um den nicht besonders bemerkenswerten Bau still gewesen, kalte Erde und ein schwarzes Loch. Als Junge hatte er Dutzende von Waldmurmeltieren geschossen, auf dem Landsitz seines Großvaters in Connecticut, und er hatte sich nicht groß mit diesen Tieren beschäftigt. Aber dieses Exemplar hier hatte eine besondere, nahezu mystische Bedeutung angenommen, als fester Bestandteil des vom Doktor erst kürzlich verkündeten Programms »Organisierte Erholung ohne Ennui« (auch noch der unwichtigste Feiertag eine Mahnung wie auch ein Anlaß, die Rechte des Tierreichs in Ehren zu halten und zu respektieren). Wider willen war Will wirklich und ernsthaft interessiert zu sehen, wie das verlassene Loch in der Erde zum Leben erwachte. Gleichgültig, wie sich das Drumherum gestaltete, es war ein Versprechen, daß alles sich erneuerte, wiedergeboren wurde, die Sonne wiederkehrte. Und er war auch neugierig: Wie würde es der kleine, weißgekleidete Impresario bewerkstelligen? War das Erdreich mit elektrischen Drähten durchzogen? Hatte er einen Wecker in das Loch gestellt? Oder würde einer seiner Mitarbeiter das Tier schlicht und einfach ausgraben?
    Die Rehe wanderten weiter. Die Sonne stach durch die Wolken. Will legte die Fingerspitzen ans Fenster und rülpste leise, schmeckte Milch, immer nur Milch. Er spürte, wie sich sein Magen plötzlich verkrampfte, und er verkrampfte sich aufgrund einer Vorstellung, einer Befürchtung, die er seit Tagen mit sich trug, von einer Minute zur andern vergaß und an die er sich gleich danach wieder erinnerte. Tatsache war, daß weder er noch Dr. Kellogg dem Auftritt des Waldmurmeltiers beiwohnen würden, der laut der San-Hauszeitung

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