Willkommen in Wellville
überaus lehrreich.«
»Das Vergnügen war ganz meinerseits«, knurrte der vegetarische Fürst und schlug die Zähne in sein Hüttenbrot.
Als es soweit war, kam Schwester Graves, um Will auf die Operation vorzubereiten, und er dankte den Schicksalsgöttinnen, daß sie es war und nicht Schwester Bloethal, die, wie sich herausstellte, damit beschäftigt war, einen weiteren verstopften Darm mit Hilfe der Klistiermaschine zu bewässern. Irene war flink und wunderschön, und obwohl sie versuchte, so sachlich und geschäftsmäßig wie möglich zu sein, bemerkte Will doch, daß sie besorgt um ihn war. Tief besorgt. Über den Ruf der Pflicht und die normalen Grenzen der Schwester-Patient-Beziehung hinaus besorgt. Die Art, wie sie sich bewegte und sprach, eine gewisse Atemlosigkeit und die Überbetonung der kleinsten Gesten verrieten sie. Sie sorgte sich um ihn. Ganz bestimmt. Und obwohl sie die Brosche nicht angenommen hatte und obwohl sie verstört und wütend gewesen war wegen seiner Ausrutscher, hatten sie sich während der letzten Wochen erneut einander angenähert, und jetzt schien alles wieder wie früher. Es war belebend, bei ihr wieder in Gnaden aufgenommen zu sein, sie lächeln zu sehen, mit ihr zu scherzen, mit ihr an der Anstrengung teilzuhaben, die sie so innig miteinander verband – dem Kampf, den Schrotthaufen seines Leibes und seiner Seele zu retten.
Sie kam um elf Uhr und fand ihn grübelnd am Fenster stehend vor. Sie unterhielten sich beiläufig über das Waldmurmeltier und darüber, ob es sich blicken lassen würde, und dann maß sie seine Temperatur, horchte ihn ab, maß den Blutdruck und notierte den Wert auf ihrer Karteikarte. Sie gab ihm etwas zu trinken, damit er sich entspannte – es wirkte kurioserweise wie Sear’s-White-Star-Alkoholentziehungskur, ein Wärmegefühl breitete sich von seinem Bauch zu den Gliedmaßen aus, bis in die Finger und die Zungenspitze –, und anschließend half sie ihm auf eine Bahre, und Ralph, der starke, verläßliche Ralph, schob ihn zum Aufzug und dann in die chirurgische Abteilung.
Um Viertel vor zwölf lag er in einem Vorzimmer zum Operationssaal, Schwester Graves an seiner Seite, und wartete auf Eleanor. Eleanor mußte ihr eigenes morgendliches Pensum erfüllen und konnte deswegen nicht bei ihm sein während der langen Wartezeit, aber sie hatte versprochen, sich etwas früher von ihrer Haltungstherapie-Sitzung wegzustehlen, um die letzten Augenblicke bei ihm zu sein. Irenes Stimme, mild wie eine von der Sonne erwärmte Brise, schwebte über ihm; sie hielt seine Hand und informierte ihn über die Abenteuer ihrer Brüder und Schwestern, um ihn abzulenken – der kleine Philo war auf dem Teich durch das Eis gebrochen, und seine Haare waren am Kopf angefroren; Evangeline hatte sich am Butterfaß zwei schwarze Fingernägel geholt; die Hunde hatten in der Scheune einen Fuchs gestellt. Will fühlte sich träge, körperlos. Augenblicke aus seinem Leben zogen an ihm vorüber, und er sah sich selbst als spindeldürren Jungen, an Leib und Seele gesund, wie er am Heldengedenktag Brathuhn schlemmte, durch einen Hain weißer Birken radelte, unter der Brücke angelte, vor die Tür trat an einem Morgen, den der erste Schnee verwandelt hatte. Aber dann verkrampfte sich sein Magen erneut. Er kam unters Messer: Das war die Wirklichkeit. Das Messer. Er stellte sich Mrs. Tindermarsh vor, dieses Monument aus Fleisch, den Hängebauch, die schlaffen Brüste, verletzlich und nackt unter Dr. Kelloggs tastendem Skalpell, dem Skalpell, das aufschnitt, durchschnitt, sich ins Fleisch fraß. »Bringen Sie mich hier raus«, krächzte er, und seine eigene Stimme erschreckte ihn. »Irene, bringen Sie mich in mein Zimmer zurück, bringen Sie mich weg – ich will nicht – ich kann nicht –«
Schwester Graves sprach ihm Mut zu. Sie redete, sang, summte seine Ängste fort. Das Wiegenlied von Brahms? Ja, Brahms. Sie sprach immer weiter, und während er so dalag, seine Geschlechtsteile in ein steriles Handtuch gewickelt, seifte sie seinen Unterleib ein und begann, das kleine Dickicht von Haaren zu rasieren, das sich hier, außer Sichtweite der Sonne, üppig lockte. Undeutlich wurde ihm bewußt, daß Eleanor ins Zimmer hastete, ihr Gesicht hing über dem seinen wie eine Lampe, ein wütender Wortwechsel erfolgte zwischen seiner Frau und seiner Krankenschwester – Was glauben Sie, daß Sie mit meinem Mann tun? –, und dann war Eleanor verschwunden, die Bahre wurde in Bewegung gesetzt, die
Weitere Kostenlose Bücher