Willkommen in Wellville
Publikum seiner Anwesenheit bewußt war. Bescheiden und schneidig in einem seiner Sommeranzüge – weiß, selbstverständlich, warum sollte er die Jahreszeit nicht ein bißchen vorantreiben? –, hielt er die kurzen Arme hoch und bat um Ruhe.
»Willkommen, meine Damen und Herren, hochverehrte Gäste«, rief er, hielt inne, um in die Hände zu klatschen und die Versammelten mit einem Blick heiligmäßigen Wohlwollens zu bedenken – sie waren seine Herde, und nichts Schlimmes würde ihnen widerfahren. Sie würden verschont bleiben von Arterienverkalkung, Herzflattern, Tumoren, Magengeschwüren, zittriger Hand und versagendem Bein. Sie waren die Auserwählten, die Erkorenen, die Rechtschaffenen, und in seiner Gegenwart lebten sie auf.
»Nun«, rief er und kam gleich zur Sache. »Im erhabenen Sinne von La Vie Simple stürzen wir uns sofort auf das heutige Thema, wollen wir?« Er räusperte sich, rückte das weiße Brillengestell zurecht. »Ja. Wir haben hier eine Frage« – er faltete einen Papierzettel auseinander – »von, äh, Mr. W.B.J. bezüglich der Gefahren von Fleisch als Nahrungsmittel. Ich zitiere: ›Wie wir wissen, ist der Verzehr tierischer Nahrungsmittel in höchstem Grade gefährlich; abgesehen davon, daß er gegen alle Gesetze Gottes und der Menschen verstößt, verursacht er Autointoxikation und viele damit verbundene – und wenn unbehandelt, oft tödliche – Krankheiten. Wohnen dem Fleischverzehr noch andere verborgene Gefahren inne, und wenn ja, welche?‹« Der Doktor hob den Blick vom Zettel. »Eine ausgezeichnete Frage, Mr. W.B.J. -ich gratuliere Ihnen.
Nun also, abgesehen von den schockierenden und höchst bedauerlichen Zuständen in den Schlachthöfen dieses Landes, die ich, wenn ich mich recht erinnere, vor zwei Wochen auf diesem Podium angesprochen habe – oder war es vor drei Wochen, Frank?« Der Doktor hielt inne, um mit einem Ausdruck gutmütiger Besorgnis Frank Linniman die Frage vorzulegen, der aufrecht und mit ordentlich übergeschlagenen Beinen in der ersten Reihe saß.
»Vor zwei Wochen, Doktor«, lautete die Antwort.
»Ja. Nun. Denjenigen, die damals noch nicht hier waren, möchte ich raten, im Buch Der Dschungel nachzulesen, Mr. Upton Sinclairs ausgezeichnetem Roman zu diesem Thema – er war zufällig erst letzten Herbst unser Gast hier, eine große Ehre für uns –, und natürlich in meinem eigenen Werk zu diesem Thema: Schlachten, um zu essen?, veröffentlicht und vertrieben von unserem hauseigenen Verlag im Jahr, bevor Mr. Sinclairs löbliches Opus erschien, und Sie können es, nebenbei gesagt, zu einem sehr niedrigen Preis erwerben. Die Einnahmen fließen gänzlich dem Unterhalt dieser Institution und seiner lebenswichtigen Arbeit zu …
Wie auch immer, ich will Sie heute abend nicht ergötzen – oder sollte ich sagen, in Angst und Schrecken versetzen? – mit Geschichten über tierische Abfälle, Kot, Blut, Urin und sogar Erbrochenes, das in Wursthäute oder Dosen mit Fleisch gepreßt wird, oder über die Praxis, das Fleisch tuberkulosekranker Tiere durch den Fleischwolf zu drehen – und ich möchte hinzufügen, einschließlich infektiöser Tuberkel als Würzmittel –, um die miserable Qualität des Fleisches zu verdecken … Ich erkenne auf einen Blick das Ausmaß des Ekels, den Sie bei der schieren Erwähnung dieser amtlich belegten Fakten verspüren, und welcher zivilisierte Mensch würde vor solchen Greueln nicht zurückschrecken? Versuchen Sie sich bitte nur für einen Augenblick die hilflosen Angstschreie von Kälbern, Lämmern, Ferkeln, Hühnern, Enten und Truthähnen vorzustellen, die zur Schlachtbank geführt werden, während ihnen das Blut ihrer Verwandten, ihrer Brüder und Schwestern, das Blut ihrer eigenen Erzeuger stinkend in die Nase steigt …«
Er hob abwehrend die Arme. »Aber es ist nicht meine Absicht, heute abend die Sünden wider das Leben und die Gesundheit aufzuzählen, Sünden, die weiterhin begangen werden, während wir hier sitzen, trotz der Anstrengungen von Mr. Sinclair und Dr. Wiley und dem Nationalen Gesundheitsamt und von uns allen, die wir danach streben, ein hygienisches, fortschrittliches, reines, gutes und aufgeklärtes Leben zu führen – nein, meine Absicht ist es, Mr. W.B.J.s Frage zu beantworten, Ihnen von einem Übel zu erzählen, in all seinen ekelerregenden Einzelheiten, das noch wesentlich heimtückischer ist.« Er ließ seinen Blick über die Gesichter schweifen, Reihe um Reihe bis ganz nach hinten zu den
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