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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Wichtige und Einflußreiche Persönlichkeit. Wills Magen drehte sich um, als er sah, wie Eleanor ihm schöntat (und sein Magen brauchte gewißlich kein zusätzliches Umdrehen mehr). Genau das war es, was mit ihr nicht stimmte – sie hatte keinen Sinn für Verhältnismäßigkeit.
    Sie sprachen über prominente Vegetarier, die sie beide kannten, Badger ließ sich über sie aus, Eleanor plazierte die Namen, Hart-Jones flatterte stotternd und wiehernd um die Ränder der Unterhaltung und versuchte vergeblich, als geistreich durchzugehen. Will starrte zum Fenster hinaus in den blendenden Sonnenschein und die schwammartigen Wolken, beobachtete, wie die Baumwipfel hell und dunkel und wieder hell wurden, bis er es nicht länger aushielt. Er wandte sich Mrs. Tindermarsh zu, die wie ein Berg zu seiner Linken saß, die Hände vor einem Teller gefaltet, der so leer war wie seiner. »Sie nehmen heute kein Frühstück zu sich, Mrs. Tindermarsh?« murmelte er, um etwas, irgend etwas, zu sagen, um sich selbst von den Banalitäten des Eleanor-Badger-Dialogs abzulenken.
    Mrs. Tindermarsh erstarrte. Sie entfaltete die Finger, einen nach dem anderen, und sprach, ohne den Kopf zu heben: »Ich werde heute operiert.«
    Panik schoß durch Wills Adern – in seiner Gereiztheit wegen Eleanor hatte er es geschafft, für einen Augenblick den entsetzlichen Urteilsspruch zu vergessen, der über seinem eigenen Haupt schwebte. »Ich auch«, sagte er mit einer unnatürlich hohen, quiekenden Stimme.
    Das große, massige Fries von Mrs. Tindermarshs Kopf wandte sich ihm zu, und eine Art dumpfes, mitfühlendes Interesse schimmerte in ihren Augen. »Ach wirklich«, sagte sie lethargisch, »was für ein Zufall. Ich bin um halb zwölf dran – für den Stich. Ich bin natürlich nervös. Aber ich glaube, es ist das beste für meine … nun«, und sie versuchte zu lächeln, »wir dürfen nicht so weitermachen, nicht wahr? Es hat was von Symptomitis.«
    Will nickte. Bedachte sie mit einem matten Lächeln. »Ich bin um zwölf dran«, sagte er. »Auch für den Stich. Das meint zumindest der Doktor. Natürlich weiß er es erst mit Sicherheit, wenn er drin ist …« Seine Stimme erstarb. Er sah plötzlich den Doktor in seiner Chirurgenmaske vor sich, wie er sich über die Öffnung beugte – ein Loch, tief und schwarz –, wie ein Zauberer hineinlangte und ein Waldmurmeltier an den Ohren herauszog. Er schloß die Augen und rieb sich die Schläfen, dann griff er nach seinem Glas mit Wasser. Mit zittriger Hand.
    »– kannte die Alcotts persönlich«, sagte Badger gerade. »Ich war natürlich noch ein kleiner Junge, aber ich habe in Dove Cottage ein paar unschätzbare Lektionen gelernt …«
    Und Will wußte, daß er diese Lektionen in entsetzlicher Ausführlichkeit erklären würde, wie er es während des letzten Monats beim Frühstück, Mittag- und Abendessen getan hatte, wobei er Tautologie für eine Tugend hielt und Inspiration in seiner eigenen heiseren, rauhen, dröhnenden, nörgelnden Stimme fand. Der Mann trug im Winter Hanfsandalen, verschmähte Wolle und lief bei Temperaturen unter dem Gefrierpunkt in einem Baumwollhemd herum. Und er fiel auch dadurch auf, daß er nichts anderes aß als grobes, ungesäuertes Hüttenbrot aus Grahammehl, das er mitgebracht hatte, getrocknete Äpfel und reines, unverfälschtes Quellwasser aus Concord, Massachusetts, wo Bronson Alcott gelebt hatte. Die Kellogg-Diät, so ließ er sie unzählige Male wissen, ging nicht weit genug. Melasse, Milch, Butter, Kartoffeln! Er verachtete alles. Will für seinen Teil wünschte ihm Frieden und Trost im Grab und hoffte wider alle Hoffnung, daß er an seinem Pappdeckelbrot ersticken möge.
    Eleanor konterte Badgers Rede mit etwas vergleichbar Dummem, und Will, der mittlerweile vor Anstrengung, an sich zu halten, an allen Gliedern zitterte, wandte seine Aufmerksamkeit Miss Muntz zu, die links neben Mrs. Tindermarsh saß. »Ah, Miss Muntz«, sagte er und versuchte zu lächeln, »darf ich fragen, wie Sie mit Ihren Zeichnungen vorankommen?«
    Will wagte es nicht, sich nach ihrem Zustand zu erkundigen – oder auch nur danach, wie sie sich fühlte. Das einstmals große, stattliche Mädchen mit der grünlichen Gesichtsfarbe, das sie noch zwei Monate zuvor gewesen war, war jetzt gebeugt und faltig, die Haut lag schlaff über den Knochen, hing in Säcken unter ihren Augen, schuppte sich an ihren Ohren. Sie war so bleich und blutleer wie ein Opfer von Bram Stokers Monstern, und sogar ihr

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