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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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geflüstert, verschiedene Zubereitungs- und Fleischarten betreffend – »Wild?« rief der Doktor irgendwann. »Dann können Sie die Bandwurmeier gleich so essen, und damit wäre die Sache erledigt!« – und einen erschöpfenden Vergleich individueller Symptome. Mindestens ein Dutzend Fragen begann hypothetisch mit: »Was wäre, wenn –?«
    Dr. Kellogg hatte Geduld mit ihnen. Schließlich hatte er sein Ziel erreicht, indem er die Unzulänglichkeiten von Tuckermans erstklassigem Schweinefleisch und den heimtückischen, gesichtslosen, hakenbewehrten Wurm im Glas vorgeführt hatte – das heißt, er hatte sie aufgebracht und ihnen Widerwillen eingeflößt und ihren Entschluß bestärkt, für alle Zeiten Fleisch und Fleischprodukte zu meiden. Nach ungefähr einer halben Stunde beantwortete er damit nicht zusammenhängende Fragen zur Heliotherapie, Naturkultur, zum Nudismus (er billigte alles, sogar Nudismus, solange die Geschlechter strikt getrennt wurden) und zu den physiologischen Ursachen des Gähnens und der Macht der Suggestion. Dann, als sie emotional aufgerieben waren, saft- und kraftlos und erschöpft darum kämpften, auf den orthopädischen Stühlen die physiologisch korrekte Haltung einzunehmen, brachte der Doktor einen weiteren Clou.
    Die Frage nach dem Gähnen hatte zu einer epidemischen Ausbreitung dieses oralen Phänomens geführt, und Dr. Kellogg spulte gerade seine diesbezüglichen Ratschläge herunter – »Waschen Sie sich das Gesicht mit kaltem Wasser, trinken Sie ein Glas kaltes oder heißes Wasser oder ein erfrischendes Getränk, dann wird im allgemeinen die Neigung zum Gähnen schwinden« –, als Dr. Linniman, der sich des eingelegten Bandwurms entledigt hatte, zwanglos in den Saal schlenderte, mit Fauna, der Timberwölfin, an der Leine.
    Die Menge erwachte augenblicklich zum Leben. Fauna war nicht unbedingt der Liebling der Massen wie Lillian, die Schimpansin, aber ihr Erscheinen kündigte stets ein Bravourstück des Doktors an. Köpfe wandten sich um. Das Gähnen hörte auf. Stimmengeflüster schwirrte die Gänge entlang. Dr. Kellogg strahlte, als Frank, blondhaarig und mit physiologisch korrekter Kieferhaltung, den Gang entlangkam, die fügsam einhertrottende Wölfin an seiner Seite. Dem scharfen Auge des Doktors entging nicht der kleinste Makel des Tiers – der ungleichmäßige Gang, die asymmetrisch geformten Hüften, der stumpfe Blick und der verfärbte Fellstreifen auf der Bauchunterseite, den Murphy vergessen hatte zu pudern. Die Frage nach ihrer Ernährung hatte von Anfang an der Teufel gesehen – der Doktor gab ihr Erdnüsse und Gemüsemilch, Protose, Maismehl, Weizenstärke, und er sorgte dafür, daß ihr Darm unerbittlich saubergehalten wurde, aber irgend etwas fehlte ihr. Bei näherer Betrachtung sah das Tier einfach nicht gesund aus. Dennoch – und er seufzte leise und zufrieden –, niemand würde es bemerken. Nein, alles, was sie sahen, war ein herrliches Geschöpf, eine große weiße vegetarische Wölfin, als Welpe aus der Wildnis errettet und mit Sanatoriumskost großgezogen.
    Frank führte sie auf die Bühne und reichte dem Doktor die Leine. Die Wölfin, die ihre Rolle ebensogut kannte wie Lillian die ihre und obendrein wesentlich gefügiger war, blickte ruhig auf die Zuhörerschaft, ein reines, wildes Symbol der Natur, wie Jack London es sich nicht besser hätte ausdenken können. Sie leckte dem Doktor die Hand und ließ sich dann auf die Hinterbeine nieder, wirkte so zufrieden wie ein Retriever vor dem Kaminfeuer. Der Doktor wartete, bis Frank Linniman von der Bühne gestiegen war und den Saal verlassen hatte, und dann hielt er mühelos einen Vortrag aus dem Stegreif.
    »Sie alle kennen Fauna«, sagte er und legte eine Hand auf den breiten weißen Kopf. »Sie alle haben sie auf den Sanatoriumswiesen spielen sehen, beobachtet, wie sie mit den Rehen und Kaninchen, die wir an Ostern freigelassen haben, herumsprang und -tollte. Aber etwas, was Sie nie gesehen haben, ist die wölfische Natur dieses Tiers. Denn vergessen Sie nicht, meine Damen und Herren, Fauna ist kein Schoßhündchen, kein Collie oder Schäferhund, sondern ein Wolf, ein Raubtier, das seit undenklichen Zeiten eine Gefahr für den Menschen darstellt, ein echter wilder Wolf, der im öden Nordwesten, an der entferntesten Spitze des Lake Superior, gefangen wurde. Aber würde sie mir ein Haar krümmen? Oder Ihnen? Würde es ihr im Traum einfallen, sich auf die netten, unschuldigen Rehe und Hasen zu stürzen?«

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