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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Er tätschelte sie, und wieder leckte sie ihm die Hand (er nahm sich vor, sich die Hände zu waschen, kaum wäre er von der Bühne heruntergestiegen). »Nein, meine Freunde und Gefährten auf dem Weg zum biologischen Ideal, das würde sie selbstverständlich nicht. Und Sie alle kennen den Grund dafür – weil sie niemals rotbefleckte Zähne und Klauen gehabt hat, weil sie nie getötet, nicht einmal Fleisch geschmeckt hat. Als sie zu uns gebracht wurde, war sie noch nicht entwöhnt, und sie wurde ausschließlich mit Lebensmitteln ernährt, die auch Sie und ich für gewöhnlich zu uns nehmen: eine Meisterin und ein Paradeexemplar der vegetarischen Lebensweise.«
    In diesem Augenblick teilte sich die Menge vor der Tür, und erneut betrat Dr. Linniman den Saal. Diesmal wurde er von zwei stämmigen Pflegern begleitet, die einen Käfig trugen, aus dessen Tiefe ein anhaltendes, wildes, warnendes Grollen zu hören war, ein knurrender Wechselgesang von Wut und Haß, nur hie und da unterbrochen von zähnefletschendem Atemholen. Gefahr schwebte im Raum. Die Menschen im Saal spürten sie, und sie tastete sich ihre Wirbelsäulen hinunter, brachte die urzeitlichen Säfte zum Fließen, stellte ihnen die Nackenhaare auf. Auch Fauna spürte sie. Sie richtete die Ohren auf und stieß ein kaum hörbares Wimmern aus, aber der Doktor brachte sie mit einem verstohlenen Tritt zum Schweigen.
    Als der Käfig auf der Bühne stand, wurde sein Insasse für alle sichtbar: ein zweiter Wolf, schwarz wie ein Traum in der finstersten Stunde der Nacht. Er kauerte an den Gitterstäben, seine Augen flackerten gelb, knotige Speichelfäden baumelten von den weiß aufblitzenden Zähnen. Der Doktor mußte die Stimme erheben, um gehört zu werden. »Beruhigen Sie sich, meine Damen und Herren. Glauben Sie mir, es handelt sich lediglich um eine Demonstration. Niemandem wird etwas geschehen.« Das Publikum war erregt, es wurde nicht mehr bloß geflüstert, sondern ein angstvolles, kakophones Geschrei erhob sich. Der Doktor mußte streng in die Hände klatschen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. »Meine Damen und Herren, beruhigen Sie sich«, wiederholte er.
    Obwohl sie daraufhin verstummten, wartete der Doktor ab. Er stand einfach nur da – der weiße Wolf lag friedlich zu seinen Füßen, sein Gegenstück zerrte am Gitter des Käfigs –, damit sie schön ausführlich das Tableau betrachten konnten, das er für sie arrangiert hatte. Endlich ergriff er das Wort. »Sie alle hatten während der letzten Minuten Gelegenheit, den radikalen Temperamentsunterschied zwischen diesen beiden Tieren zu studieren, Tieren derselben Gattung, obwohl der Anschein zu einem völlig anderen Urteil verleiten könnte. Der zweite Wolf – es ist ein Männchen, ja, ja, knurr du nur für uns –, der zweite Wolf kannte bis vor einer Woche nichts als den ruchlosen Schrecken, der Tag und Nacht die Wälder regiert – und das nicht im Wilden Westen, von dem wir nur eine vage Vorstellung haben, sondern hier in den Mooren und Wäldern Michigans. Ja, hier. Dieses Exemplar wurde mir von einem gewissen Bjork Bjorksson gebracht, einem Fallensteller von hier, der ihn in einer seiner Fallen fand, keine zwanzig Meilen von der Stelle entfernt, wo Sie jetzt sitzen.« Nun, da er sein Publikum völlig im Griff hatte, machte Dr. Kellogg eine Pause, um diese Information wirken zu lassen. »Und ist einer von Ihnen aufgrund des Augenscheins davon überzeugt, daß dieser Wolf Ihnen kein Haar krümmen würde? Oder daß dieser Wolfspielerisch mit den Jungen unserer Rehherde über die Wiesen springen würde?«
    Als wäre das sein Stichwort, steigerte der eingesperrte Wolf die Lautstärke seines Knurrens um ein bis zwei Dezibel. Des Doktors Standpunkt wurde verstanden.
    »Und worin besteht der Unterschied zwischen den beiden? Der eine ernährte sich von blutigen Fetzen rohen Fleisches, das er Stück für Stück aus seiner Beute riß, die andere vegetarisch. Liegt irgend jemandem von Ihnen, Mann oder Frau, daran, die gleichen Gefühle wie dieses Tier im Käfig zu erleben? Ja? Ich höre nichts.« Schweigen, abgesehen von dem anhaltenden Knurren. »Nun, ernähren Sie sich nur von Fleisch, Koffein, Bourbonwhiskey und Tabak, und Sie werden eine ähnliche Wut kennenlernen. Aber lassen Sie uns zur Demonstration schreiten, ja? Frank? Frank, wo sind Sie?«
    Frank Linniman, effizient und dienstbeflissen wie immer, war schon zur Stelle, um ihm zu assistieren. Er erhob sich von seinem Platz am Fuß der Bühne,

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