Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
Vom Netzwerk:
sich um, als er den Raum betrat, sich in den Sessel setzte und träge Die Erweckung der Helen Ritchie vom Tisch nahm, »die physiologische Lebensweise erfordert gewaltigen Mut, eine große Willensanstrengung –«
    Er lächelte. Schlug die Beine übereinander. »Wer könnte das besser wissen als ich?«
    Schwester Graves erwiderte das Lächeln, und ihr Lächeln erkannte die Größe seiner Opfer im Kampf um ein physiologisches Gleichgewicht an – er trug die Narben der Schlacht schließlich auf seinem Bauch. »Natürlich wissen Sie das«, sagte sie mit rauh flüsternder Stimme, »es war eine rein rhetorische Wendung … Aber was ich meine, ist, daß eine sehr willensstarke Person den Kampf zu weit treiben kann, sie begnügt sich nicht mit eudämonistischen Übungen, sondern geht soweit, dem Körper die Erfüllung grundlegender Bedürfnisse zu verweigern. Wenn man das Bedürfnis nach Fleisch, Tabak, Alkohol, Kaffee, Tee, Arzneimittel jeglicher Art bezwingt, dann greift der Wille manchmal noch rigoroser durch, verstehen Sie?«
    Will verstand nicht. Überhaupt nicht. Er hatte eine ganze Welt aufgegeben, und was hatte es ihm gebracht? Einen teilweise ruinierten statt eines völlig ruinierten Magens. Und wozu das Ganze? Damit er Maisbrei und Haferschleim essen konnte?
    Sie versuchte es mit einem neuen Kurs. »Frauen sind besonders beeinflußbar. Wenn eine Kontrolle der Ernährung Autointoxikation und Neurasthenie und so gut wie alle anderen erdenklichen Krankheiten heilen kann, dann folgt daraus – das heißt, für einen Geist, der über das Ziel hinausschießt –, daß eine strengere Kontrolle der Essensgelüste eine um so vollständigere Heilung nach sich zieht.«
    Will hob den Blick vom ersten Absatz des Romans, einem Absatz, den er im Verlauf der letzten Stunde ungefähr achtmal gelesen hatte, ohne auch nur ein Wort zu registrieren, und dachte laut darüber nach, ob es das war, was mit Eleanor nicht stimmte – und wenn ja, wie sah eine Heilung aus?
    Irene bewegte sich jetzt flott – sie mußte noch andere Patienten bewässern und ins Bett bringen, und außerdem war sie keine große Freundin von Eleanor, die versucht hatte, jeglichen Kontakt zwischen Will und ihr zu unterbinden, bis Will Wind davon bekommen und sich gegen sie durchgesetzt hatte – und gab zunächst keine Antwort. Ihre Stirn war vor Konzentration gerunzelt, als sie die Zutaten für das Klistier bemaß, und Will lehnte sich zurück und bewunderte sie. In letzter Zeit war er zunehmend geil gewesen – er hatte den Gebrauch des Heidelberg-Gürtels auf drei Stunden pro Nacht zurückgeschraubt, statt ihn wie vorher die ganze Nacht bis zum Morgen zu tragen –, und Schwester Graves erregte ihn mehr denn je. Besonders aufgrund der neuen Üppigkeit ihrer Figur und der traurigen Tatsache, daß Eleanor keinerlei Interesse für ihn zeigte – er brauchte nur den Kopf zu ihrer Tür hineinzustecken, und sie griff sich an die Schläfen und murmelte: »Nicht jetzt, Will, bitte – ich bin völlig am Boden zerstört.«
    Irene wandte sich ihm mit dem ehrwürdigen Instrument und einem offiziellen Lächeln zu, und er spürte, wie sich bei diesem Anblick seine Gedärme entspannten. »Ich werde mit ihrem Arzt sprechen«, sagte sie schließlich, und ihre Stimme war ein pludriges, gehauchtes, winziges Kratzen. »Und jetzt«, und ihre leise, beruhigend geflüsterten Worte prickelten in seinen Adern, als würde Selterswasser statt Blut durch sie fließen, »sind Sie bereit für die Spülung?«
     
    Eine weitere Mahlzeit.
    Noch eine.
    Aus wie vielen Mahlzeiten bestand das Leben, fragte sich Will und stocherte in seinem Protose-Haschee und dem Makkaroni-Schnitzel herum, aus wie vielen Hundertfünfzig-Gramm-Portionen Mus, Brei, Grütze und Haferschleim? Draußen war ein hartnäckig schöner Tag – die Engel wisperten in der Brise, jede Blüte an Baum, Busch, Blume und Halm verströmte ihren Duft, die Vögel zwitscherten –, während hier, im Speisesaal, die biologische Lebensweise mit Macht vorangetrieben wurde. Oh, man war elegant, wohlhabende Herren mit behaartem Gesicht und in englischen Anzügen, Damen in den letzten Modellen aus New York und Paris, eine warme, murmelnde Unterströmung belanglosen Geplauders und höheren Diskurses, aber war dies das Leben, das Leben, wie man es leben sollte, roh und ungebändigt und berauschend, oder war es ein Simulacrum unter einer Glasglocke? Will hob die Gabel, schob sich einen geschmacklosen Klumpen Ballaststoffe in den Mund und

Weitere Kostenlose Bücher