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Willkommen in Wellville

Willkommen in Wellville

Titel: Willkommen in Wellville Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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Besseres zu tun – zu Abend zu essen, zum Beispiel, und anschließend mußte er zurück ins San, um die Arbeiten zu erledigen, die er tags zuvor aufgeschoben hatte. Der Junge würde es leid werden. Das war unvermeidlich.
    Aber George wurde es nicht leid. Er machte weiter, Tag für Tag, Nacht für Nacht – soweit beobachtbar, aß und schlief er nicht, und kein Bitten und Mahnen vermochten ihn von seinem zwanghaften Tun abzubringen. Zur Tür herein, die Treppe hinauf, den Flur entlang bis zum nackten Haken und wieder zurück. Die Füße des Jungen begannen eine Spur auf den Dielenbrettern zu hinterlassen, seine Schuhe rissen, die Nähte der Jacke lösten sich auf. Eine Woche verging. Zwei. Niemand hatte gesehen, daß er etwas gegessen, das Bad aufgesucht oder geschlafen hätte. Zur Tür herein, die Treppe hinauf, den Flur entlang bis zum nackten Haken. Der Doktor wachte nachts auf, und aus weiter Entfernung, durch die grabesgleiche Stille des riesigen dunklen Hauses hörte er die schlurfenden Schritte kleiner Füße: sch-schch, sch-schch, sch-schch. Es war zum Wahnsinnigwerden. Es erbitterte ihn. Es brachte ihn um den Schlaf. Schließlich, nachdem George zweieinhalb Wochen durchgehalten und das ganze Haus in Aufruhr versetzt hatte, schlug der Doktor in seinem Zorn eines Nachts die Bettdecke zurück und stürmte zur Tür hinaus, marschierte am Schlafzimmer seiner Frau vorbei, wandte sich nach rechts und ging die Haupttreppe hinunter und in den rückwärtigen Teil des Hauses, wo sich die Kinderzimmer befanden.
    Im Flur war es düster, durch die Fenster fiel blasses Mondlicht. Er blieb stehen. Horchte. Er hörte das Blut in seinen Ohren rauschen – aber sonst nichts. Nichts. Keinen Laut. Und dann, wie ein Messerstich, ertönte das Quietschen der Tür in den Angeln, und vor ihm, unablässig schlurfend, tauchte eine gespenstische kleine Gestalt auf, die in ihrer Zwangsarbeit gefangen war: zur Tür herein, die Treppe hinauf, den Flur entlang bis zum nackten Haken. »George!« schrie der Doktor. »Verdammt noch mal, George – hör auf damit. Hör sofort auf!«
    Seine Worte zeitigten keine Wirkung. Er stellte sich vor den Jungen, versperrte ihm den Weg, aber für George war das kein Hindernis. Die kleinen Füßchen schlurften zwei außerplanmäßige Schritte, und das Hindernis lag hinter ihm. In diesem Augenblick begriff der Doktor, daß George, auch wenn er die ganze Nacht hier stünde, wenn er hier stünde, bis der Frühling gekommen wäre und die Bäume blühten und die Drosseln brüteten und tausend Bäuche von seinen chirurgischen Werkzeugen und heilenden Fingern aufgeschnitten worden wären, daß George noch immer um ihn herumgehen würde, wortlos, bis in alle Ewigkeit, als wäre er nichts weiter als eine aus Stein gehauene Statue. Und es war dieser Gedanke, der Gedanke an die Blindheit des Jungen, seine Dummheit und störrische Undankbarkeit, der den guten Doktor aus der Bahn warf.
    Er war damals Anfang Vierzig und trotz seiner kleinen Statur unter den Lebenden einer der Gesündesten und körperlich Fittesten. In einem einzigen Satz war er oben auf der Treppe, und dann hatten seine Hände den Jungen im Griff, Fleisch traf auf Fleisch, und er wrang die spindeldürren Arme des Jungen aus, als wären sie patschnasse Handtücher. Vor Anstrengung keuchend, zerrte er dem Jungen die Jacke vom Leib, riß sie in Fetzen, und dann, im fahlen Mondlicht des stillen, schattigen Flurs, schlug er auf dieses unnachgiebige kleine Dreieck von einem Gesicht ein, bis seine Hand schmerzte. Als er fertig war, als er sich verausgabt hatte, drehte er sich um und ging ins Bett. Zum erstenmal seit einer Woche schlief er, schlief wie ein Unschuldiger.
    Am nächsten Morgen ging George in seiner neuen Jacke mit den anderen Kindern zur Schule. Laut Hannah hatte er in seinem Bett geschlafen, das er sofort machte, nachdem er aufgestanden war, anschließend hatte er sich gewaschen, die Zähne geputzt, die Toilette benutzt und sein Frühstück eingenommen, wie es von ihm erwartet wurde. Im Flur erklang kein Schlurfen mehr, nicht mehr das ewige Wispern winziger Füße in ihren abgetragenen, winzigen Schuhen, der hängende Kopf und der vorwurfsvolle Ausdruck wurden nicht mehr gesehen. Dr. Kellogg verspürte einen Stich des Bedauerns, wenn er an die Gewalttätigkeit dachte, zu der er getrieben worden war – waren Hannah irgendwelche Spuren an dem Kind aufgefallen? –, aber er tat es mit einem Achselzucken ab. Er war ein vielbeschäftigter Mann –

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