Willst du meine Liebe nicht
wären Ricos Charakterzüge ins Gegenteil umgeschlagen. Aus Liebe war Hass geworden, Freude hatte sich in Bitterkeit verwandelt, in eiskalte Rachsucht. Einst hatte er sie mit Hochachtung behandelt, nun betrachtete er sie voller Verachtung.
Als sie die schreckliche Szene von vorhin vor ihrem geistigen Auge Revue passieren ließ, fragte sie sich, warum sie ihm nicht gesagt hatte, dass sie seinen Sohn bei sich behalten und wie einen Schatz gehütet hatte, der das letzte Bindeglied zu dem geliebten Mann darstellte. Aber sie hatte sich zu sehr vor Rico gefürchtet. Er war ein Mann ohne Herz und auch noch stolz darauf. Wo früher tiefe Gefühle regiert hatten, herrschte in ihm nur noch Leere, die er mit Machtstreben und Eigensinn auszufüllen suchte.
Dieser furchtbare Wandel in Rico war das Ergebnis vieler Jahre. Er ließ sich nicht durch ein Geständnis rückgängig machen, gleichgültig, wie willkommen es auch sein mochte.
Rico war nur an Vendetta interessiert, und welche bessere Strafe könnte es für sie geben, als ihr den Sohn wegzunehmen?
Daher durfte er nie erfahren, dass Gary bei seiner Mutter lebte. Sie musste die nächsten Wochen durchstehen und dann vor ihm flüchten, bevor er ihr Geheimnis erriet. Es würde eine Geduldsprobe sein, aber sie hatte sich bereits bewiesen, dass sie eine Überlebenskünstlerin war.
4. KAPITEL
Am Vormittag sollte die erste Probe stattfinden. Julie wählte eine schlichte Kombination aus einer rostbraunen Hose und einer dazu passenden Seidenbluse und beschränkte ihr Make-up auf ein Minimum. Sie wollte gerade die Suite verlassen, als der Empfangschef anrief.
“Ihr Wagen ist hier, Signorina.”
“Ich erwarte keinen Wagen.”
“Der Club hat ihn geschickt, um Sie abzuholen.”
Sie dankte dem Mann und ging nach unten, wo Ricos Chauffeur bereits auf sie wartete. “Es tut mir Leid, dass Sie den Weg umsonst gemacht haben”, sagte sie lächelnd. “Ich möchte lieber laufen.”
Er wurde blass. “Aber der Boss …”
“Er wird es verstehen.”
Die Miene des Fahrers verriet, dass er ernsthafte Zweifel daran hegte, doch Julie ließ ihn einfach stehen und eilte aus dem Hotel. Es war ungemein wichtig für sie, zumindest in einigen Punkten ihre Unabhängigkeit zu verteidigen.
Allerdings gab es noch einen anderen Grund. Gestern hatte sie vom Flughafen aus daheim angerufen, weil sie sich nicht bis zur Ankunft im Hotel hatte gedulden können. Heute war sie froh darüber. Hätte sie den Anschluss in ihrer Suite benutzt, würde Rico ihre Telefonnummer in England herausfinden.
Sämtliche Verhandlungen wegen des Engagements hatte ihr Agent geführt, und Rico hatte offenbar nicht die leiseste Ahnung, wo sie lebte, ansonsten hätte er gewusst, dass Gary bei ihr war. Und dabei wollte sie es unbedingt belassen.
Sie bog in eine Seitenstraße ab und nahm ihr Handy aus der Tasche. Wenig später hörte sie die Stimme ihres Sohnes. “Hallo, mein Schatz”, sagte sie liebevoll.
“Hallo, Mommy!”
“Was hast du gerade gemacht?”
“Tante Cassie und ich haben das Frühstücksgeschirr abgewaschen.” Er war noch in einem Alter, in dem man Abwasch als Spiel betrachtete. “Ich habe einen Teller zerbrochen.”
Sie lachte leise. “Was soll’s, Liebling. Meinetwegen könntest du hundert Teller zerbrechen.”
Gary kicherte, und eine Woge des Glücks durchströmte sie.
Er war jedes Opfer wert. Sie plauderten noch eine Weile, dann reichte er den Hörer an Tante Cassie weiter.
“Cassie, hast du irgend jemanden in der Nähe des Hauses herumlungern sehen?” fragte Julie besorgt. “Fremde Männer?
Hat jemand an der Tür geklingelt?”
Ihrer Cousine war jedoch nichts und niemand aufgefallen.
Julie entspannte sich etwas, wollte allerdings kein Risiko eingehen.
“Erinnerst du dich an unseren letzten Urlaub im Lake District? Ich möchte, dass ihr dort hinfahrt. Heute noch, sofort.
Setz Gary in den Wagen, und fahr los. Und erzähl niemandem, wohin ihr wollt.”
“Julie, was ist passiert?”
“Das erkläre ich dir ein andermal. Aber bring Gary noch heute fort.”
“Können wir nicht zu dir kommen?”
“Nein”, rief sie entsetzt. “Bitte, Cassie, tu, was ich dir gesagt habe. Ruf mich an, wenn ihr dort seid.”
Rasch lief sie zum Club und verursachte einen mittleren Aufruhr, weil sie zu Fuß erschien. Der Portier war aschfahl.
“Der Boss hat Ihnen einen Wagen geschickt”, meinte er unbehaglich.
“Ich weiß, aber mir war ein Spaziergang lieber.”
“Aber …”, nervös schaute
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