Wilsberg 03 - Gottesgemuese
ich vor. »Oder besser noch: Sie nehmen mich mit auf ein Nachbarschaftsfest.«
Sie lachte. »Möchten Sie den ganzen Abend über Verkehrsberuhigung, Kindergruppen und gestiegene Zinsen reden?«
»Habe ich Ihnen noch nicht gesagt, dass ich mich ausgezeichnet tarnen kann? Notfalls rede ich sogar über das Ozonloch.«
Sie nahm mich am Arm und führte mich ins Wohnzimmer. »Ich habe Sie nicht engagiert, um mit mir zu plaudern, nicht wahr?«
»Nein, das haben Sie nicht.«
Als wir saßen, ich mit einer Flasche Bier, sie mit einem Martini, sagte sie: »Sie haben eine schlechte Nachricht, stimmt's?«
Ich nahm eine von ihren Zigaretten. »Wissen Sie, was ein Rehabilitationszentrum ist?«
»Oh Gott! Martin ist in einem Reha-Zentrum?«
»Jemand hat das behauptet.«
»Wo?«
»Das habe ich noch nicht herausgefunden. Wenn ich Glück habe, erfahre ich es morgen.« Ich erzählte von der jungen Frau im Jogginganzug.
Anja Kunstmann saß zusammengesunken in ihrem Sessel. »Die Reha-Zentren sind das Schlimmste. Sekteneigene Gefängnisse mit strengsten Regeln. Es gibt nur Arbeit und Training, bis zu sechzehn Stunden am Tag. Vergnügungen und Luxus sind untersagt. Zu den Vergnügungen zählen so abscheuliche Dinge wie Musikhören und Fernsehen. Kommunikation mit Menschen außerhalb des Reha-Zentrums ist verboten, für jeden Brief und jedes Telefongespräch muss man den Trainer um Erlaubnis fragen. Ein Reha-Zentrum ist die Hölle.«
»Gibt es Menschen, die so etwas freiwillig mitmachen?«, fragte ich.
Sie nickte. »In die Reha-Zentren werden nur Mitglieder eingewiesen, die bereits den Zustand der Freiheit erreicht haben. Wer auf dieser Ebene einen Fehler macht, wer gegen die Disziplin verstößt oder den Lehren von Stocker widerspricht, wird vor die Wahl gestellt: Entweder er verlässt die KAP oder er geht in ein Reha-Zentrum.«
»Und wie kommt man dort wieder raus?«
»Da gibt es auch nur zwei Möglichkeiten: Entweder man beweist, dass man seinen Fehler bereut – oder man verlässt die KAP.«
»Und offensichtlich will Ihr Mann Mitglied bleiben. Mal angenommen, ich finde ihn: Glauben Sie tatsächlich, dass ich ihn überzeugen kann, nach Hause zu kommen?«
»Die betreiben Gehirnwäsche«, sagte sie leise. »Anders kann man das nicht erklären. Auf der anderen Seite …«, sie guckte mir in die Augen, »… ist die Chance vielleicht jetzt am größten. Martin ist intelligent. Er muss doch merken, was die mit ihm machen. Warum hört er nicht auf damit?«
Sie suchte ein Taschentuch in ihrer Hose und schnäuzte sich ausgiebig.
Ich wartete.
»Sprechen Sie mit ihm!«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Bitte!«
Ich ging um den Tisch herum, hockte mich neben ihren Sessel und nahm sie in den Arm. »Ich werde es versuchen. Aber ich will Ihnen keine Hoffnung machen.«
»Was soll nur aus den Kindern und mir werden?«, jammerte sie. »Wenn Martin seine Professur an der Uni verliert, sind wir am Ende.«
»Vielleicht brauchen Sie keinen Privatdetektiv, sondern einen Anwalt. Vor ein paar Jahren hätte ich Ihnen auch in der Hinsicht weiterhelfen können, ich war nämlich mal Rechtsanwalt. Leider habe ich einen Fehler gemacht, der mit dem Entzug meiner Lizenz bestraft wurde.« Dass ich in dem offiziellen Reha-Zentrum unserer Gesellschaft, auch Strafvollzugsanstalt genannt, ein halbes Jahr verbracht hatte, erwähnte ich nicht.
Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und grinste ein bisschen. »Haben Sie eine Bank überfallen?«
Immerhin hatte ich sie auf andere Gedanken gebracht.
»Ich habe mir Geld geborgt ohne zu fragen. Der Richter nannte das Unterschlagung.«
»Sie sind ja verlegen«, sagte sie erstaunt.
Ich hörte auf, mich am Hinterkopf zu kratzen. »Nein, das ist, äh …«
»Eindeutig eine Verlegenheitsgeste.«
»Da ich einmal bei den Geständnissen bin: Ich habe Neurodermitis. Eine Begleiterscheinung dieser Krankheit ist ein unangenehmes Jucken.«
»Dann kommt das hier auch von der Neurodermitis?« Sie legte ihren Zeigefinger auf eine verkrustete Wunde an meinem Handgelenk.
»Genau. Bin ich Ihnen jetzt unsympathisch?«
»Du bist nett«, sagte sie.
Ich zog ihren Kopf zu mir heran und küsste sie. Sie schmeckte nach Martini und unerfüllter Sehnsucht.
Nach ungefähr zehn Minuten hörten wir auf.
»Mein Gott, ich wusste gar nicht mehr, dass das so schön ist.«
»Man könnte sich daran gewöhnen«, stimmte ich zu.
Sie gab mir einen Stoß, und ich ließ mich auf den Rücken fallen.
Mit geschlossenen
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