Wilsberg 12 - Wilsberg und die Schloss-Vandalen
zumindest geahnt. Aber ob er selbst in die Sache verwickelt war ...« Ich ließ das Satzende im Raum stehen.
Stürzenbecher musterte den Abschiedsbrief. »Und warum hat er sich umgebracht? Mal vorausgesetzt, es handelt sich tatsächlich um einen Selbstmord, wonach ja alles aussieht.«
»Mir gegenüber hat er mehrfach geäußert, dass er keine Lust mehr habe.«
»Wozu? Zu leben?«
»Zu arbeiten.«
Der Hauptkommissar stutzte. »Geht das nicht vielen so? Nimm mich zum Beispiel. Aber bring ich mich deswegen um?«
Während Franka das hoteleigene Schwimmbad nutzte, lag ich auf dem Bett und las. Das Manuskript war tatsächlich ein Roman, nicht besonders gut, weder spannend noch originell, ein bisschen verquast und sprachverliebt, das typische Produkt eines Reporters, der sich in der Alltagsarbeit unterfordert fühlt. Wahrscheinlich hätte der Text, wäre er denn zu Ende geschrieben worden, das Schicksal von neunundneunzig Komma neun Prozent ähnlicher Versuche geteilt, nämlich auf einer Computerfestplatte in ewiger Jugend vor sich hin zu dämmern. Je weiter ich kam, desto sicherer war ich allerdings auch, dass Max Mehring niemals vorgehabt hatte, das Werk zu veröffentlichen.
Die Geschichte handelte von drei Jugendlichen, zwei Jungen und einem Mädchen, die durch eine unglückliche Dreierbeziehung verbunden sind. Junge Nummer eins liebt das Mädchen, das Mädchen liebt Junge Nummer zwei und Junge Nummer zwei liebt Junge Nummer eins. Die drei machen vieles gemeinsam, gehen auf Partys, probieren Drogen aus, fahren spontan nach Amsterdam. Einmal gibt es eine längere, von Beziehungskrisen geschüttelte Urlaubsreise nach Skandinavien. Denn was die drei auch anstellen, spaßig ist es in den seltensten Fällen. Zumeist belauern sie sich gegenseitig, eifersüchtig darauf bedacht, dass die beiden anderen nicht die Erfüllung finden, die dem jeweils dritten versagt bleibt. Der Autor selbst bezeichnete das Verhältnis als krankhaft, und doch sind sie durch das Wissen aneinandergekettet, dass es außerhalb ihres Dreiecks nur die profane Hölle der Banalität gibt. Ihr geheimes Wissen um die versagte Liebe, ausgedrückt in Insider-Zeichen und -Worten, erhebt sie meilenweit über die phlegmatische, langweilige Welt der Altersgenossen, zumindest in ihren eigenen Augen.
Über viele Seiten schleppte sich die Geschichte in Variationen des immer gleichen Themas dahin und ich kämpfte bereits gegen eine bleierne Müdigkeit, als sich, kurz vor Schluss, noch eine überraschende Wendung ergab. Auf einem ihrer Streifzüge treffen die drei Jugendlichen auf zwei Landstreicher, die im Wald campieren. Sofort erkennen sie die Chance, gegen eine Konvention zu verstoßen, unterhalten sich mit den Landstreichern und versorgen sie mit Lebensmitteln. Zwischen den beiden ungleichen Gruppen entwickelt sich eine Art von Beziehung, deren Grenze jedoch sehr schnell klar wird. Da schlägt Junge Nummer eins, der in der Regel für die Gemeinheiten zuständig ist, vor, sich mit den Landstreichern einen Scherz zu erlauben.
Und genau an dieser Stelle brach das Manuskript ab. Vielleicht hatte Mehring einfach aufgehört oder er hatte die restlichen Seiten vernichtet.
Die Jugendlichen im Manuskript trugen Namen, sie hießen Raimund, Albert und Anna. Die Kleinstadt, in der der größte Teil der Handlung spielte, hatte der Autor Ansbach getauft und der Wald nannte sich dementsprechend Ansbacher Forst. Trotzdem war die Ähnlichkeit der Romanfiguren mit lebenden oder bereits toten Personen nicht zu übersehen. Junge Nummer eins war Max Mehring selbst, Junge Nummer zwei Alex van Luyden. Aber wer war das Mädchen? Anke Schwelm?
Ich griff zum Telefonhörer und ließ Stürzenbecher aus dem Speisesaal des Hotels Krone holen, in dem er logierte.
»Was gibt's?«, knurrte der Hauptkommissar mit vollem Mund.
»Angenommen, es gab noch einen zweiten Landstreicher, der mit seinem später zu Tode gekommenen Kumpel unterwegs war. Dieser zweite Landstreicher hat vieles, wenn nicht alles mitbekommen. Er konnte sich rechtzeitig absetzen oder flüchten, als es brenzlig wurde. Aber er hat die Täter gesehen und ist vielleicht noch heute in der Lage, sie zu identifizieren.«
Stürzenbecher schluckte geräuschvoll. »Woher weißt du von dem zweiten Landstreicher?«
»Es ist nur eine Vermutung.«
»Für mich klingt das mehr nach unterschlagenem Beweismaterial.«
»Das ist deine berufsbedingte, psychische Verformung, die immer nur das Schlechte im Menschen sieht.«
»Aha. Und
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