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Wilsberg 17 - Wilsberg und die dritte Generation

Wilsberg 17 - Wilsberg und die dritte Generation

Titel: Wilsberg 17 - Wilsberg und die dritte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juergen Kehrer
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du früher auch mal so?«
    »Du meinst, Hausbesetzer oder Terrorist?«
    »Bist du nicht ein Altachtundsechziger?«
    »1968 war ich zwölf Jahre alt«, sagte ich. »Da habe ich mich noch nicht für Politik interessiert. Aber du hast recht. In meiner Studienzeit war ich links. Ich habe Marx gelesen und ihn für den größten Theoretiker aller Zeiten gehalten. Verstaatlichung der Industrie, Sozialismus, das volle Programm. Wir hielten uns für klüger als das gemeine Volk und hätten ihm gerne unsere Vorstellungen aufs Auge gedrückt.«
    »Eigentlich ist Sozialismus doch keine schlechte Idee«, sagte Sarah mit ernster Miene. »Wir haben in der Schule darüber geredet. Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Die einen backen Brot, die anderen gehen angeln oder schreiben Bücher.«
    »Und alle sind glücklich«, ergänzte ich.
    »Was ist daran verkehrt?«
    »Dass es nur auf dem Papier funktioniert. In der Sowjetunion und in den anderen sogenannten sozialistischen Ländern mussten die Menschen zu ihrem Glück gezwungen werden. Dafür waren die kommunistischen Parteien zuständig. Aber als sie erst einmal an der Macht waren, wollten sie sie nicht wieder abgeben, weil sie merkten, dass es sich mit den damit verbundenen Privilegien ganz gut leben ließ. Das führte dann geradewegs in die Diktatur, ohne Meinungs- und Pressefreiheit und mit einer Geheimpolizei, die alle Andersdenkenden überwacht und ins Gefängnis geworfen hat.«
    »Aber mal angenommen, eine Gesellschaft entscheidet sich freiwillig für den Sozialismus …«
    »Funktioniert auch nicht«, sagte ich. »Die Menschen sind einfach nicht in der Lage, friedlich zu teilen und ohne materielle Anreize für andere zu schuften. Psychologen haben herausgefunden, dass es in jeder Gesellschaft fünfzehn Prozent Habgierige gibt, die ein solches System sofort ausnutzen würden, um auf Kosten der anderen zu leben. Die gutwillige Mehrheit würde sich das eine Zeit lang angucken und dann sauer werden und die Habgierigen bestrafen. Mit anderen Worten: entweder Diktatur oder Leistungsprinzip. Da ist mir das Leistungsprinzip lieber.«
    Sarah sah mich erstaunt an. »Dann bist du also Kapitalist?«
    »Nee, aber ich glaube, dass eine Demokratie mit sozialer Marktwirtschaft die Gesellschaftsform ist, in der sich die Menschen am wenigsten gegenseitig schaden.«
    Das Telefon klingelte.
    Ich konnte nicht glauben, was ich auf dem Display las. »Pia?«
    »Georg? Bist du das?« Unverkennbar Pia Petrys Stimme.
    »Du hast meine Nummer gewählt. Oder war das ein Versehen?«
    »Ich habe gelesen, dass du verhaftet worden bist. Da dachte ich …«
    »Mir geht’s gut«, sagte ich. »Jemand hat versucht, mir einen Mord anzuhängen. Ist aber nicht gelungen.«
    »Das ist ja eine spannende Geschichte. Erzähl mal!«
    Ich wollte gerade loslegen, als mir einfiel, dass wir vermutlich nicht allein in der Leitung waren. »Du, das geht am Telefon schlecht.«
    »Wieso?«
    »Dauert’s noch lange?«, rief Sarah.
    »Hast du Frauenbesuch?«, fragte Pia.
    »Nein. Das heißt, Sarah ist da, meine Tochter.«
    »Deine Tochter?«
    »Du weißt doch, dass ich eine Tochter habe.«
    »Ich geh schon mal ins Bett«, rief Sarah.
    »Die schon mal ins Bett geht«, sagte Pia.
    »Warum soll sie nicht ins Bett gehen?«, sagte ich. »In ihr’s, natürlich.«
    Pias Stimme war deutlich kühler als vor zwei Minuten. »Dann will ich dich nicht länger stören.«
    »Du störst mich nicht«, sagte ich. »Ich würde dich gerne treffen.«
    »Mal sehen. Wenn ich demnächst in deine Gegend komme. Ich melde mich.«
    Rufen Sie nicht mich an, ich rufe Sie an.
    »Tu das!«, sagte ich.
    Und damit war das Gespräch beendet.

X
    Wegen des schlechten Wetters verzichteten Sarah und ich am Samstag auf die Fahrradtour und kauften stattdessen ein paar Kleidungsstücke, die Sarah angeblich dringend benötigte, obwohl sie so aussahen, als könne man sie nur bei fünfundzwanzig Grad im Schatten tragen, ohne eine Erkältung oder Schlimmeres zu riskieren. Am Abend schauten wir den französischen Liebesfilm, der bei Sarah zu feuchten Augen und bei mir zu wehmütigen Gedanken über das Leben im Allgemeinen führte.
    Als ich Sarah am Sonntagnachmittag bei ihrer Mutter ablieferte, hatte ich einen Kloß im Hals. Das harmonische Wochenende mit meiner Tochter war der größtmögliche Kontrast zu dem gewesen, was ich in den Tagen zuvor erlebt hatte, und mir wurde wieder einmal bewusst, dass mein Leben aus lauter Brüchen bestand, die sich

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