Wilsberg 17 - Wilsberg und die dritte Generation
will mir ein paar Zehen amputieren.«
Die Polizistin setzte sich auf den Sessel neben meinem. »Was haben Sie sich bloß dabei gedacht, in Everskirchen aufzukreuzen?«, fragte sie mit unterdrückter Wut. »Habe ich Sie nicht gewarnt?«
»Sie wussten also, dass da die Drahtzieher sitzen?«, fragte ich zurück.
»Natürlich wussten wir das. Und jetzt wissen die, dass wir es wissen. Tolle Leistung, Herr Wilsberg.«
»Die hätten mich beinahe umgebracht«, erinnerte ich sie. »Haben Sie die ganz Bande wenigstens hochgenommen?«
»Nein. Wozu?«
»Gilt versuchter Mord nicht mehr als Verbrechen?«
»Was haben Sie denn vorzuweisen?« Ihr Tonfall war beißend kühl. »Die einzigen Verletzungen, die man bei Ihnen festgestellt hat, sind leichte Erfrierungen. Und die haben Sie sich zugezogen, als Sie sich in den Schnee gelegt haben. Einer der Wachmänner ist mit einer schweren Gehirnerschütterung ins Krankenhaus eingeliefert worden, das haben wir mittlerweile erfahren. Soll ich Ihnen sagen, was bei einer Untersuchung herauskommen wird? Sechs Zeugen werden aussagen, dass Sie den Wachmann angegriffen haben und dass man Sie nur verfolgt hat, um Sie der Polizei zu übergeben. Falls es zu einem Prozess kommt, werden Sie vor Gericht stehen und nicht die.«
Sie hatte recht, aber ich wollte das nicht zugeben. »Trotzdem könnten Sie die Siedlung durchsuchen. Irgendwas werden Sie schon finden.«
»Sie haben es wohl immer noch nicht begriffen«, versetzte sie schneidend. »Haben Sie vergessen, was Dickbier gesagt hat: Eine Durchsuchung wird es nur geben, wenn wir absolut sicher sind, Beweise zu finden.«
»Oder wenn es einen konkreten Hinweis auf Felizia Sanddorn gibt.«
Sie runzelte die Stirn. »Was heißt das?«
»Ich habe sie gesehen.«
»Felizia Sanddorn?«
Ich erzählte ihr von der Begegnung in der Lagerhalle.
Niemeyer war verblüfft. »Das hört sich so an, als könne sich Frau Sanddorn frei in der Siedlung bewegen.«
»So sah es aus«, stimmte ich zu.
Die Polizistin musterte mich skeptisch. »Und welche Erklärung haben Sie dafür?«
Ich schaute zur Seite. »Gar keine.«
»Herr Wilsberg! Sie verschweigen mir doch etwas.«
Ich musste es ihr sagen. »Man hat mir eine Spritze gegeben. Ein Wahrheitsserum. Einer der Foltergreise hat sogar den Namen des Präparats erwähnt: Natriumpentothal, wenn ich mich nicht irre.«
Sie pfiff durch die Zähne. »Ich hätte nicht gedacht, dass das heute noch verwendet wird. Bei Natriumpentothal verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Fantasie. Können Sie beschwören, dass Felizia Sanddorn tatsächlich vor Ihnen stand?«
»Nein«, gab ich zu. »Aber sie sah ziemlich echt aus.«
»Vergessen Sie es!«, winkte sie ab. »Damit kann ich Dickbier nicht kommen. Was haben Sie denen sonst noch erzählt? Haben Sie Namen erwähnt?«
»Keine Namen. Das hatte ich mir fest vorgenommen.«
»Und haben Sie es auch durchgehalten?«
»Hundert Pro, also, sagen wir, neunundneunzig …«
Niemeyer war nicht überzeugt. »Das gefällt mir nicht.«
»Mir auch nicht. Ich war das Opfer, das sollten Sie nicht unterschlagen.«
»Weil Sie gegen meinen Rat gehandelt haben«, fuhr sie mich an. »Sie haben sich wie ein Idiot benommen. Mensch, Wilsberg, ich versuche Ihnen zu helfen, verstehen Sie das nicht?«
»Wer hat mich eigentlich gefunden?«, lenkte ich ab.
»Ein Jäger. Sie haben wirklich Schwein gehabt. Ein oder zwei Stunden später …«
»Das habe ich schon gehört.«
»Reiner Zufall, dass ich sofort davon erfahren habe. So konnte ich dafür sorgen, dass Sie hier unter einem anderen Namen eingeliefert wurden. Trotzdem …«, sie kaute auf ihrer Unterlippe, »… müssen wir Sie so schnell wie möglich woanders hinbringen. Falls bis morgen früh keine Komplikationen auftreten …«
»Und wohin?«
»Das werden Sie schon früh genug mitbekommen.« Sie stand auf. »Und keine Anrufe, klar? Bis auf Weiteres bin ich Ihr einziger Ansprechpartner.«
Ich wartete, bis sich die Stationstür hinter ihr geschlossen hatte. Dann fuhr ich noch einmal nach unten und rief Franka an.
»Georg!«, stieß sie erleichtert aus. »Ich habe schon den ganzen Tag versucht, dich zu erreichen. Ich habe mir Sorgen gemacht.«
»Ich lebe«, sagte ich. »Mehr darf ich dir nicht verraten.«
»Was ist passiert? Wo bist du?«
»In Sicherheit.«
»Was ist los?«
»Ich melde mich wieder«, sagte ich und legte auf.
Bei der Visite am nächsten Morgen betrachtete eine Horde Weißkittel mit skeptischen Mienen meine
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