Wimsey 04 - Der Mann mit dem Kuperfingern
erhob sich mit einer ungeduldigen Gebärde, ging zu dem Bild und fuhr nachdenklich mit dem Daumen über die Farbstrukturen.
«Sie könnten jetzt fragen, warum er das Bild nicht vernichtet hat, wenn er das Gesicht so haßte. Aber das konnte er nicht. Es war das beste, das er je gemalt hatte. Zweihundert Pfund hat er dafür genommen. Das war noch billig. Aber schließlich – ich glaube, er hat nicht gewagt, es mir abzuschlagen. Mein Name ist ziemlich bekannt. Es war wohl ein bißchen Erpressung im Spiel. Aber ich wollte das Bild haben.»
Inspektor Winterbottom lachte wieder.
«Haben Sie irgend etwas unternommen, Mylord, um herauszufinden, ob Crowder wirklich in East Felpham war?»
«Nein.» Wimsey fuhr abrupt herum. «Ich habe überhaupt nichts unternommen. Das ist Ihre Aufgabe. Ich habe Ihnen die Geschichte erzählt, und ich wünschte bei meiner Seele, ich hätte nur zugeschaut und nichts gesagt.»
«Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.» Der Inspektor lachte zum drittenmal. «Es ist eine gute Geschichte, Mylord, und Sie haben sie sehr gut erzählt. Aber Sie hatten schon recht, als Sie sagten, es sei ein Märchen. Wir haben nämlich diesen Italiener gefunden – Francesco nannte er sich, und er ist tatsächlich unser Mann.»
«Woher wissen Sie das? Hat er gestanden?»
«Mehr oder weniger. Er ist tot. Hat sich selbst umgebracht.
Er hat einen Brief an die Frau hinterlassen, in dem er sie um Verzeihung bittet und schreibt, er habe Mord in seinem Herzen gefühlt, als er sie mit Plant zusammen gesehen habe. ‹Ich habe Rache genommen an dem, der es wagte, Dich zu lieben›, schreibt er. Ich denke, er hat es dann mit der Angst zu tun bekommen, als er merkte, daß wir ihm auf der Spur waren – ich wollte, diese Zeitungen würden die Verbrecher nicht immer warnen – und sich umgebracht, um dem Galgen zu entgehen. Ich darf sagen, daß ich ein bißchen enttäuscht darüber war.»
«Das glaube ich gern», sagte Wimsey. «So etwas ist natürlich unbefriedigend. Aber ich bin froh, daß meine Geschichte sich zu guter Letzt als ein Märchen herausgestellt hat. Sie wollen doch nicht schon gehen?»
«Ich muß, die Pflicht ruft», sagte der Inspektor, indem er schwerfällig aufstand. «Hat mich sehr gefreut, Sie kennenzulernen, Mylord. Und ich meine das ernst, was ich vorhin sagte – Sie sollten Bücher schreiben.»
Nachdem er gegangen war, stand Wimsey noch immer vor dem Porträt und sah es an.
«‹Was ist Wahrheit?› fragte Pilatus scherzend. Kein Wunder, da sie so vollkommen unglaublich ist … Ich könnte es beweisen … wenn ich wollte … aber dieser Mann hatte ein Schurkengesicht, und es gibt so wenige gute Maler auf der Welt.»
11
Das Wettangeln nach dem gestohlenen Magen
«Du lieber Himmel!» rief Lord Peter Wimsey. «Was ist denn das?»
Thomas Macpherson wickelte das hohe Glas aus den letzten Schichten Papier und Stroh und stellte es behutsam neben die Kaffeekanne.
«Das» sagte er, «ist Großonkel Josephs Vermächtnis.» «Und wer ist Großonkel Joseph?»
«Er war ein Onkel meiner Mutter. Ferguson hieß er. Ein exzentrischer alter Knabe. Und ich war gewissermaßen sein Liebling.»
«So sieht es aus. Ist das alles, was er Ihnen vermacht hat?» «Hm, ja. Er hat immer gesagt, eine gute Verdauung sei das Kostbarste, was ein Mensch besitzen könne.»
«Da hatte er vermutlich recht. Ist das die seine? Und war sie gut?»
«O ja. Er ist fünfundneunzig Jahre alt geworden, ohne je einen Tag krank zu sein.»
Wimsey betrachtete das Glas mit erhöhtem Respekt. «Woran ist er gestorben?»
«Er hat sich aus dem Fenster seiner Wohnung im sechsten Stock gestürzt. Hatte einen Schlaganfall gehabt, und die Ärzte haben ihm gesagt – oder er hat es sich selbst denken können –, daß dies der Anfang vom Ende sei. Er hat einen Brief hinterlassen, darin steht, er sei sein Lebtag nie krank gewesen und wolle auch jetzt nicht damit anfangen. Man hat natürlich einen Anfall geistiger Umnachtung daraus gemacht, aber ich glaube, er war völlig bei Verstand.»
«Das finde ich auch. Was war er denn, als er noch funktionierte?»
«Er war früher mal Unternehmer. Hatte etwas mit Schiffbau zu tun, glaube ich, aber er hat sich schon lange zur Ruhe gesetzt. Er war so eine Art Einsiedler, wie die Zeitungen das immer nennen. Lebte ganz für sich allein in einer kleinen Etagenwohnung in Glasgow, ganz oben im obersten Stockwerk, und empfing niemanden. Manchmal war er tagelang auf eigene Faust unterwegs, und kein Mensch
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