Wimsey 04 - Der Mann mit dem Kuperfingern
zur Seite auszubrechen.
«Komisch!» sagte Wimsey. «Wenn das mein Gemütszustand ist, der sich dem Reittier mitteilt, sollte ich besser mal zum Arzt. Meine Nerven müssen ja in Fetzen hängen. Komm, mein Mädchen! Was ist denn mit dir los?»
Polly Flinders rührte sich mit allen Zeichen des Bedauerns, aber auch der Entschiedenheit, nicht vom Fleck. Er versuchte ihr behutsam die Fersen zu geben, doch sie wich mit zurückgelegten Ohren nur weiter zur Seite aus, und er sah das Weiße eines protestierenden Auges. Er glitt vom Sattel, faßte ins Zaumzeug und versuchte sie weiterzuführen. Nach einigem guten Zureden folgte das Pferd ihm auch mit weit ausgestrecktem Hals und vorsichtigen Schritten, als ginge es auf Eiern. Nach einem Dutzend solcher tastenden Schritte blieb es, an allen Gliedern zitternd, von neuem stehen. Er legte ihm die Hand an den Hals und fand ihn schweißnaß.
«Zum Teufel aber auch!» sagte Wimsey. «Hör mal zu, ich will gefälligst lesen, was da auf dem Pfosten steht. Wenn du schon nicht mitkommst, wirst du wenigstens stehenbleiben?»
Er ließ den Zügel fallen. Die Stute stand mit hängendem Kopf da. Er ließ sie stehen und ging weiter, allerdings von Zeit zu Zeit einen Blick nach hinten werfend, ob sie auch keine Anstalten machte, die Flucht zu ergreifen. Polly stand jedoch ganz still da und trat nur unruhig von einem Fuß auf den andern.
Wimsey erreichte den Pfosten. Es war ein gedrungener Pfeiler aus frisch geweißtem altem Eichenholz. Auch die Inschrift darauf war erst kürzlich mit schwarzer Farbe erneuert worden. Sie lautete:
AN DIESER STELLE WURDE
GEORGE WINTER BEI DER VERTEIDIGUNG
DES EIGENTUMS SEINES HERRN
MEUCHLINGS ERMORDET VOM
SCHWARZEN RALPH
AUS HERRIOTTING
DER DAROB AM 9. NOVEMBER 1674
AM ORT SEINES VERBRECHENS
IN KETTEN GEHÄNGT WURDE
FÜRCHTET DIE GERECHTIGKEIT
«Wie hübsch», sagte Wimsey. «Das muß zweifellos der Totenpfahl sein. Polly Flinders scheint die allgemeine Abneigung der Einheimischen gegen diesen Ort zu teilen. Nun, Polly, wenn das deine Gefühle sind, will ich ihnen keine Gewalt antun. Aber darf ich bitte fragen, wie es kommt, daß du bei einem bloßen Pfosten so empfindlich bist, während eine Todeskutsche mit vier kopflosen Pferden dich völlig kalt läßt?»
Die Stute nahm die Schulter seines Jacketts behutsam zwischen die Lippen und knabberte daran herum.
«Ganz recht», sagte Wimsey. «Verstehe vollkommen. Du würdest schon, wenn du könntest, aber du kannst wirklich nicht. Aber diese Pferde, Polly – hatten sie etwa keinen Schwefelgeruch aus den allertiefsten Abgründen bei sich? Kann es sein, daß sie wirklich nichts anderes ausdünsteten als ehrlichen, vertrauten Stallgeruch?»
Er saß auf, wandte Pollys Kopf nach rechts und lenkte sie in einem weiten Bogen um den Totenpfahl herum, bevor er sie wieder auf den Reitweg brachte.
«Die übernatürliche Erklärung ist damit, glaube ich, ausgeschieden. Nicht a priori, das wäre unredlich, aber unter Berufung auf Pollys Sinne. Bleiben als weitere Möglichkeiten Whisky oder Hokuspokus. Nähere Untersuchung scheint angezeigt.»
Er sann weiter so vor sich hin, während die Stute ruhig ihres Weges ging.
«Angenommen, ich wollte aus irgendwelchen Gründen die Leute in der Gegend durch die Erscheinung einer Kutsche mit Pferden ohne Kopf erschrecken, dann würde ich mir eine dunkle, regnerische Nacht aussuchen. Gut! So eine Nacht war es. Und wenn ich nun schwarze Pferde nähme und ihre Leiber weiß anmalte – arme Viecher, wie wäre ihnen zumute! Nein. Wie machen sie diesen Trick bei Maskelyne und Devant, wo sie Leute enthaupten? Weiße Pferde natürlich – und schwarze Kapuzen über die Köpfe. Richtig! Und Leuchtfarbe aufs Geschirr sowie hier und da einen Tupfer auf die Leiber, des guten Kontrastes wegen und damit die ganze Chose nicht unsichtbar bleibt. Soweit keine Schwierigkeit. Aber sie müssen lautlos laufen. Na gut, warum nicht? Vier schwarze Säcke, gefüllt mit Kleie, schön hochgezogen und um die Fesseln festgebunden, damit läuft ein Pferd lautlos genug, vor allem, wenn noch ein bißchen Wind dazu weht. Lappen um die Ringösen am Geschirr, damit sie nicht klimpern, desgleichen um die Enden der Zugriemen, damit da nichts quietscht. Einen Kutscher im weißen Mantel und schwarzer Maske dazu, das Ganze vervollständigt durch eine Kutsche mit Gummirädern, die mit Phosphorfarbe angestrichen und gut geölt ist – das ist sicher gespenstisch genug, um einen wohlgetränkten Herrn um halb
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