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Wimsey 10 - Das Bild im Spiegel

Wimsey 10 - Das Bild im Spiegel

Titel: Wimsey 10 - Das Bild im Spiegel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
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Haus herumtreiben. Nein – die Regentonne und dann das Grab im Garten. Aber MaherSchalal-Haschbas – edler Maher-Schalal-Haschbas – hatte um sein Leben gekämpft. Er wollte sich nicht in der Regentonne ersäufen lassen. Er hatte um sich geschlagen und sich losgerissen (»und hoffentlich«, dachte Mr. Egg, »hat er ihm die Hände bis auf die Knochen zerfleischt«), und dann hatte er sich durch ganz London bis nach Hause durchgeschlagen. Wenn Maher-Schalal-Haschbas doch nur erzählen könnte, was er wußte! Aber Monty Egg wußte etwas, und er konnte erzählen.
    »Und ich werde erzählen«, sagte Monty Egg bei sich, während er sich den Namen und die Adresse von Mr. Proctors Anwalt notierte. Er nahm an, daß es Mord war, einen alten Mann absichtlich zu Tode zu erschrecken; ganz sicher war er da nicht, aber er würde es schon herausbekommen. Er kramte in seinem Gedächtnis nach einem tröstenden Motto im Handbuch des Reisenden, doch zum erstenmal in seinem ganzen Leben fand er nichts, was zu dem Fall richtig paßte.
    »Anscheinend habe ich mich hier auf völlig branchenfremdes Gebiet begeben«, dachte er bekümmert, »aber als guter Staatsbürger –«
    Und dann mußte er lächeln, war ihm doch soeben der erste und letzte Aphorismus in seinem Lieblingsbuch eingefallen:
    Der Reisende allein verdient dies Prädikat, der stets das allgemeine Wohl im Auge hat.

Der Mann, der sich auskannte
    Wohl zum zwanzigsten Mal seit der Abfahrt in Carlisle blickte Pender von Mord im Pfarrhaus auf und sah sich von seinem Gegenüber beobachtet.
    Er runzelte leicht die Stirn. Es konnte einen schon irritieren, so unverhohlen angegafft zu werden, und immer mit diesem leicht sarkastischen Lächeln. Noch irritierender aber war es, sich von diesem Lächeln und diesem Gaffen so aus der Ruhe bringen zu lassen. Pender zwang sich, wieder in sein Buch zu sehen, und versuchte sich mit aller Entschlossenheit auf das Problem des in der Bibliothek ermordeten Pfarrers zu konzentrieren. Die Geschichte aber gehörte zu der akademischen Sorte, bei der alle Aufregungen in das erste Kapitel gepackt werden, worauf dann eine lange Serie logischer Kombinationen endlich in die wissenschaftlich zwingende Auflösung im letzten Kapitel einmündet. Der dünne Faden des Interesses, behutsam auf dem Rad in Penders logisch denkendem Gehirn gesponnen, war gerissen. Zweimal mußte er zurückblättern, um etwas nachzusehen, was ihm beim Lesen entgangen war. Dann wurde ihm klar, daß seine Augen über drei mit Argumenten dicht gespickte Seiten gewandert waren, ohne irgendeine Information an sein Gehirn weiterzuleiten. Er war mit den Gedanken gar nicht mehr bei dem ermordeten Pfarrer – mehr und mehr beschäftigte ihn dagegen das Gesicht des andern. Ein eigenartiges Gesicht, fand Pender.
    An dem Gesicht selbst war nichts sonderlich Auffallendes; der Ausdruck darin war es, der Pender Angst machte. Es war ein heimlichtuerisches Gesicht, das Gesicht eines Menschen, der über andere vieles wußte, was ihnen zum Nachteil gereichte. Der Mund war ein wenig schief und an den Winkeln fest eingezogen, so als genieße er irgendeine heimliche Freude. Die Augen glitzerten neugierig hinter einem randlosen Kneifer; aber das konnte auch an dem Licht liegen, das sich in den Gläsern spiegelte. Pender hätte zu gern gewußt, was dieser Mann für einen Beruf hatte. Er trug einen dunklen Straßenanzug, einen Regenmantel und einen abgenutzten Schlapphut; und er mochte etwa vierzig Jahre alt sein.
    Pender hustete unnötigerweise und drückte sich in seine Ecke, den Kriminalroman wie ein Schutzgitter hoch vor das Gesicht gehoben. Doch das nützte weniger als nichts. Immer mehr hatte er den Eindruck, daß der Fremde das Manöver durchschaute und sich insgeheim darüber lustig machte. Pender hielt es kaum noch ruhig auf seinem Platz, doch er hatte das dumpfe Gefühl, daß jedes Anzeichen nervöser Unrast für den andern so etwas wie ein Sieg wäre. In seiner Unsicherheit machte er sich so steif, daß jegliche Konzentration auf das Buch zu einer schieren körperlichen Unmöglichkeit wurde.
    Der Zug hielt jetzt nicht mehr bis Rugby, und es war kaum damit zu rechnen, daß noch irgendein Fahrgast aus dem Gang hereinkommen und diese unerquickliche solitude à deux beenden würde. Aber es mußte etwas geschehen. Die Stille dauerte jetzt schon so lange, daß jede noch so triviale Bemerkung – so empfand es Pender – in die gespannte Atmosphäre hineingeplatzt wäre wie das unnatürliche Schrillen

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