Wind der Gezeiten - Roman
sich vorgekommen, als müsste er von Europa zu den Antillen schwimmen, ohne Schiff. Anfangs hatte er sich bei jedem Schritt an Ayscues Nichte oder an Anne festhalten müssen und sich wie ein steinalter Invalide gefühlt. War er zu lange auf den Beinen, bildeten sich schwarze Wirbel vor seinen Augen, von den einknickenden Knien ganz zu schweigen. Anne und Catherine hatten sich aufopferungsvoll um ihn bemüht, aber er war kein besonders duldsamer Patient gewesen und am Ende immer grantiger und ungeduldiger geworden. Beide waren heilfroh gewesen, als er wieder ohne Hilfe gehen und seine Körperpflege selbst übernehmen konnte. Natürlich hatte er dann auch gleich übertreiben müssen. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, einen Waffenschmied aufzusuchen, und bei dem Versuch, das Haus zu verlassen, war er die Treppe hinabgestürzt. Dank eines gnädigen Schutzengels hatte er sich nichts gebrochen, aber schwere Prellungen und ein gefährlich brummender Schädel hatten ihn abermals aufs Krankenlager gezwungen. Beim nächsten Mal war er vorsichtiger gewesen und hatte es langsam angehen lassen. Die vielen Male, die er unermüdlich und ohne innezuhalten einfach nur von einer Seite des Zimmers auf die andere marschiert war, konnte er unmöglich zählen, doch er hatte nicht nachgelassen. Irgendwann hatte er endlich das Gefühl gehabt, wieder sicher auf den Beinen zu sein. Anschließend hatte er sich darangemacht, den Rest seines Körpers zu ertüchtigen– auf eine Art, die ihm von jeher die meisten Muskeln verschafft hatte: In dem kleinen Hof hinter Ayscues Haus schlug er Holz klein, Klafter um Klafter. Er hatte schon so viele Scheite aufgestapelt, dass Ayscue Jahre brauchen würde, um alles zu verbrennen.
Ayscue selbst war froh, dass Duncan und Anne weiterhin seine Gäste waren. Er hatte sie gedrängt, noch länger zu bleiben. Mitte August hatte er eine schwere Niederlage auf See erlitten und war seither persona non grata beim Parlament. In einer großen Schlacht vor Dover war die englische Flotte von dem niederländischen Kommandanten de Ruyter aufgerieben worden. Ayscue hatte siebenhundert Mann verloren, mehr als zehnmal so viel wie der Feind. Das Geschwader hatte er zwar retten können, doch die schmähliche Niederlage in Sichtweite des heimischen Hafens hatte seinen strahlenden Stern bei der Admiralität jäh verlöschen lassen. Man hatte ihm ohne Federlesens das Kommando über die Flotte entzogen. Sein einziger Trost bestand darin, dass auch andere hoch dekorierte Admiräle versagt hatten: Nur zwei Wochen später hatten die Niederländer in einer Seeschlacht bei Elba einen weiteren Sieg errungen, was unter den englischen Machthabern für wachsende Unruhe sorgte.
Seit der verlorenen Schlacht bei Dover kämpfte Ayscue nicht nur gegen drückende Schuldgefühle, sondern auch gegen den Verlust seines Ansehens. Er versuchte, durch regelmäßige Antrittsbesuche bei allen wichtigen Entscheidungsträgern seine Stellung wieder zu festigen, war jedoch bisher damit nicht sehr weit gekommen. Viele Freunde und Mitstreiter hatten sich von ihm abgewandt, was seine Niedergeschlagenheit noch verschlimmerte. An den Abenden kehrte er meist resigniert nach Hause zurück. Das Beisammensein mit Duncan und Anne brachte einen Hauch von Normalität und Wärme in sein Leben. Ayscue hatte dazu ein wenig lakonisch angemerkt, dass er sich ohne ihre Gesellschaft gewiss längst dem Suff ergeben hätte.
Sein Mündel Catherine hielt sich häufig außer Haus auf, offiziell bei Freundinnen, doch ihre beständig leuchtenden Augen und die rosigen Wangen kündeten von nahenden Veränderungen. Ayscue hatte läuten hören, dass es einen ernst zu nehmenden Verehrer gab, der in absehbarer Zeit bei ihm vorsprechen und um ihre Hand bitten würde.
» Wenn sie erst unter der Haube ist, bin ich wohl ganz allein « , hatte er erklärt, doch neuerdings klangen solche Äußerungen aus seinem Mund eher nach Sarkasmus als nach Selbstmitleid. Er blickte wieder selbstbewusster in die Zukunft, denn er hatte entschieden, sein Glück außerhalb Englands zu suchen. Nach den schweren Verlusten des Dreißigjährigen Krieges wurde in Schweden eine Flotte aufgebaut. Ayscue hatte in London den Gesandten der Krone kennengelernt, der ihm ein neues Wirkungsfeld als Kommandeur angetragen hatte.
Auch Duncan war im Begriff, seine Zelte in London abzubrechen und die Rückreise in die Karibik in Angriff zu nehmen. In der zurückliegenden Woche hatte er eine Reihe von Käufen getätigt
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