Wind der Gezeiten - Roman
und auf Leichtern nach Essex liefern lassen, hauptsächlich Schiffsausrüstung, die er auf seiner Werft nicht herstellen lassen konnte: Geschütze, Kanonenkugeln, Beschläge, Werkzeug, Nägel und anderes schmiedeeisernes Zubehör, daneben Schießpulver, Munition und Zündkraut, Lampen und Farbe, aber auch Waffen, vornehmlich Pistolen neuerer Bauart, außerdem Äxte, Spieße und Degen. Guy Hawkins würde alles auf die Elise bringen, die schon zum Auslaufen bereit war. Außerdem hatte er die Besatzung wieder vervollständigt. Nicht alle hatten es so lange an Land ausgehalten, ungefähr ein Viertel der Mannschaft hatte auf anderen Schiffen angeheuert. Duncan hatte sich die neuen Männer sorgfältig ausgesucht und sich dabei auch Ayscues Hilfe bedient, der ihm einige erfahrene Seefahrer empfohlen hatte. Duncan hatte sie bereits nach Essex beordert, weil er spätestens in der kommenden Woche auslaufen wollte. Bis dahin versuchte er, endgültig seine alte Form zurückzugewinnen. Er hatte Gefallen am Florettfechten gewonnen und ging täglich zu Ayscues Waffenmeister, um dort zu üben, als Ersatz für das Holzhacken, mit dem er wegen des anhaltend schlechten Wetters aufgehört hatte. Mittlerweile fühlte er sich dank der vielen sportlichen Bewegung wieder fast auf der Höhe, auch wenn er manchmal das Gefühl hatte, auf dem linken Auge nicht mehr so gut zu sehen wie früher. Der Arzt, der am Tag vor der geplanten Abreise vorbeikam, um sich nach seinem Zustand zu erkundigen, meinte, eine Schwächung der Sehkraft könne nach einer Trepanation durchaus vorkommen, sei aber angesichts der sonst viel gravierenderen Folgen eines solchen Eingriffs eine überaus harmlose Beeinträchtigung und könne auch wieder vergehen. Er habe schon Patienten behandelt, die danach leider in geistiger Umnachtung verblieben seien. Was jedoch, so sinnierte er, dem Tode immer noch vorzuziehen sei.
Duncan vermochte diese Einschätzung nur unter Einschränkungen zu teilen, war aber nichtsdestoweniger froh, die ganze Sache gesund und mit klarem Kopf überstanden zu haben. Bei dieser Gelegenheit erfuhr er auch, dass der Arzt das Loch in seinem Kopf mit einem Stück flach gehämmerten Silbers verschlossen hatte, das unter der Haut saß. Er hatte sich bereits gewundert, warum die Stelle sich so hart anfühlte, und irrtümlich angenommen, die Schädeldecke sei von allein wieder zugewachsen.
Der Arzt befühlte das Ergebnis seiner Arbeit und zeigte sich sehr zufrieden.
» Falls Euch wieder mal einer draufschlägt– Ihr werdet es gewiss aushalten! «
Duncan erklärte, es keinesfalls darauf ankommen zu lassen, versprach dem Arzt auf dessen Bitte hin jedoch, ihn wärmstens weiterzuempfehlen.
An diesem späten Nachmittag im September saßen Ayscue und seine Gäste ein letztes Mal beisammen. Sie hatten es sich in seinem Studierzimmer bei Tee und Brandy gemütlich gemacht und sprachen über die Zukunft. Im Kamin prasselte ein Feuer, die Stimmung war entspannt, aber auch ein wenig wehmütig. Mittlerweile waren sie recht gute Freunde geworden, jedenfalls soweit es Duncan und George Ayscue betraf. Was Ayscue und Anne anging, so war Freundschaft womöglich nicht das passende Wort.
Duncan konnte nicht umhin, die Blicke zu bemerken, die zwischen Ayscue und Anne hin- und hergingen. Ihm war klar, dass sie nicht nur hiergeblieben war, um ihm während seiner Rekonvaleszenz zur Seite zu stehen, sondern dass diese Aufgabe vielmehr eine willkommene Begründung gewesen war, sich wochenlang in Ayscues Haus aufzuhalten, was sonst jeglichem Gebot der Schicklichkeit widersprochen hätte.
Bedächtig trank Duncan seinen Brandy aus und stand auf.
» Ich glaube, ich muss noch einmal los. Mir fällt gerade ein, dass ich die neue Pistole noch abholen muss. «
» Aber es regnet « , gab Anne zu bedenken. Ihre Wangen hatten sich sanft gerötet.
» Es hat vorhin aufgehört « , behauptete Duncan, obwohl das Plätschern vor den Fenstern deutlich zu hören war.
» Du hast doch schon längst wieder eine neue Pistole « , meinte Ayscue. » Hast du nicht vor ein paar Tagen damit sogar im Hinterhof ein Übungsschießen veranstaltet? Jedenfalls hat sich hinterher die Witwe von nebenan über den Krach beklagt. Sie glaubte, es seien holländische Truppen im Anmarsch. «
» Gewiss, ich habe meine neuen Waffen. Sogar deren zwei, beide ausgezeichnete doppelläufige Steinschlosspistolen. Und dazu eine hervorragende Muskete. Dein Waffenmeister ist ein wahrer Künstler in seinem Metier. Und aufs
Weitere Kostenlose Bücher