Wind der Gezeiten - Roman
die Unterlagen. Dabei fand er einen dritten Brief, der zwischen zwei Lieferscheine gerutscht war. Er stammte von seiner Schwester! Mit fliegenden Fingern brach William das Siegel auf und las zuerst erleichtert, dann mit wachsender Sorge und schließlich entsetzt, was Anne ihm geschrieben hatte.
Mein geliebter Bruder!
Da in diesen Zeiten die Beförderung der Post nach den Westindischen Inseln großen Unsicherheiten ausgesetzt ist, schreibe ich Dir heute diese Zeilen in der Hoffnung, dass Du meinen letzten Brief, den ich gleich nach unserer Ankunft in England an Dich abgeschickt hatte, schon erhalten hast. Unseligerweise laufen viele Schiffe, die von England zu den Antillen segeln, zuerst andere Küsten an, etwa Afrika, um dort Sklaven zu holen, womit sich die Fahrtzeiten um Wochen verzögern. Für den Fall, dass mein erster Brief dich noch nicht erreicht haben sollte – der Bote, dem ich das Schreiben mitgab, meinte, derzeit gingen auch sehr viele Briefe wegen des Krieges auf dem Seeweg verloren –, fasse ich hier noch einmal kurz die Geschehnisse seit meinem Aufbruch von Barbados zusammen. Den hinterhältigen Beschuss der Elise hast du sicherlich mitbekommen, doch dank Duncans vorausschauender Taktik kamen wir davon. Elizabeth hat in derselben Nacht einer kleinen Tochter namens Faith das Leben geschenkt, ein bildschönes Kind, das ganz nach der Mutter schlägt. Weil Elizabeth bei der Geburt fast gestorben wäre und auch das Kind sehr klein und zart war – es kam ja lange vor der Zeit –, haben wir die Insel Dominica angelaufen, damit Elizabeth sich erholen konnte. Eine überaus gastfreundliche Witwe namens Jane Douglas hat uns in ihrem Haus aufgenommen; die Ansiedlung befindet sich in einer halbkreisförmigen Bucht im Nordwesten der Insel.
Wir hielten uns einige Wochen dort auf und setzten dann wieder Segel. Elizabeth blieb jedoch mit den Kindern und Deirdre zurück, denn die kleine Faith hätte die Reise über den Atlantik nicht verkraftet.
Auf dem Weg nach England gerieten wir in einen Hinterhalt und wurden von einer holländischen Fregatte beschossen. Duncan und Felicity wurden dabei verletzt; Felicity sehr schwer. John Evers hat sich große Verdienste erworben, indem er das Schiff sicher durch die umkämpften Seegebiete steuerte und uns nach Essex brachte, wo wir in Duncans dortigem Haus, das von seinem Verwalter bewohnt wird, Aufnahme fanden. Felicitys Zustand hat sich glücklicherweise rasch gebessert. Eine Reise nach Amsterdam ist unter den gegebenen Umständen jedoch nicht möglich, zum einen, weil Holland in erbittertem Krieg mit England liegt, zum anderen, weil Duncan nicht in der Lage ist, wie geplant Felicitys weitere Reise zu organisieren.
Damit komme ich nun zu den Ereignissen, die sich seit meinem vorangegangenen Brief zugetragen haben und die leider Anlass zu großer Sorge geben: Nachdem Duncan sich nach London aufgemacht hatte, um sich von dem ungeheuerlichen Vorwurf des Hochverrats reinzuwaschen, liefen die Dinge völlig aus dem Ruder, denn wie sich zeigte, war ihm Eugene Winston zuvorgekommen. Er hatte sich zwischenzeitlich nach England eingeschifft und dort eine neuerliche Intrige gegen Duncan in Gang gesetzt, was dazu führte, dass Duncan eingekerkert wurde. Es erging Befehl zur Vollstreckung des auf Barbados verhängten Todesurteils. Glücklicherweise konnte ich dies rechtzeitig Admiral Ayscue mitteilen, der, wie Du weißt, Duncan sehr gewogen ist. George Ayscue gelang es, Duncan vorm Galgen zu bewahren und ihn bei sich aufzunehmen. Heute jedoch habe ich von dem Boten, den ich nach London geschickt hatte, die bedrückende Nachricht erhalten, dass Duncan auf Leben und Tod daniederliegt. Der Bote meinte, es stehe nicht gut um ihn. Ich will mich daher gleich nach London aufmachen, um ihm beizustehen.
Aus all diesen Gründen möchte ich Dich bitten, Elizabeth und die Kinder unter deine Fittiche zu nehmen, denn mit einer Rückkehr Duncans in die Karibik kann einstweilen nicht gerechnet werden – so denn überhaupt jemals. Zwar hat Duncan drei seiner besten Männer zu ihrem Schutz dort gelassen, doch wie Du weißt, sind die Zeiten unsicher, und das Leben auf den von Wilden besiedelten Antilleninseln ist manchmal gefährlich. Dominica ist kaum erschlossen, außer einer Handvoll kleiner Hüttendörfer an der Westseite der Insel findet man dort nicht viel. Es geht allenthalben noch sehr primitiv und unzivilisiert zu, man lebt von Fischfang und Holzhandel. Frauen gibt es nur sehr wenige, und
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