Wind der Gezeiten - Roman
die Männer sind zumeist ungehobelte Kerle, denen man nicht allein begegnen möchte. Hin und wieder gehen in der Bucht auch marode Seelenverkäufer vor Anker, mit Besatzungen übelster Konvenienz. Mir ist äußerst unwohl bei dem Gedanken, dass Elizabeth nun schon seit so vielen Wochen dort ausharren muss, voller Ungewissheit und Angst vor der Zukunft. Auch für Duncan wäre es gewiss eine Beruhigung, wenn Du Dich ihrer annimmst.
An dieser Stelle schließe ich für heute und lasse den Brief schnellstmöglich auf den nächstbesten Westindienfahrer bringen, der dann hoffentlich bald und auf nicht allzu langen Umwegen Barbados erreichen wird.
Sobald ich in London Neues erfahre, schreibe ich Dir wieder.
In aufrichtiger Zuneigung, Deine dich schmerzlich vermissende Schwester
Anne
William ließ den Brief sinken. Celia stand in der Tür. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und blickte ihn unverwandt an.
» Schlechte Nachrichten? « , fragte sie.
» Ja. Anne hat geschrieben, aus London. Es ist möglich, dass Duncan tot ist. « Er horchte dem Klang seiner Stimme nach und fand, dass er sich eher eifrig als bekümmert anhörte. Seine Müdigkeit war schlagartig verflogen.
» Morgen früh breche ich beim ersten Tageslicht auf « , teilte er Celia mit.
» Wohin willst du denn? « Das Du kam ihr ein wenig zögerlich über die Lippen. » Etwa nach England? «
» Nein, nach Dominica. Elizabeth ist dort. Sie braucht mich jetzt. Hätte ich gewusst, dass sie sich nur ein paar Hundert Meilen von hier entfernt aufhält… Ich werde sie keinen Tag länger warten lassen. « Entschlossen eilte er an Celia vorbei zur Treppe. Im Vorbeigehen bemerkte er ihren verstörten Gesichtsausdruck, und im ersten Impuls wollte er sie fragen, was los sei. Aber dann ging er rasch nach oben, ohne sich umzudrehen.
Vierter Teil
Guadeloupe und Barbados
Winter 1652/1653
25
E lizabeth saß auf einem Felsen oberhalb des Dorfs und ließ sich den Wind um die Nase wehen. Sie ging häufig den Hügel hinauf und hielt Ausschau, und jedes Mal, wenn sie in südlicher Richtung Segel am Horizont auftauchen sah, sprang sie auf und strengte ihre Augen an, bis sie die Umrisse des Schiffs erkennen konnte. Doch jenes eine, auf dessen Ankunft sie so sehr hoffte, war bisher nicht gekommen.
Manchmal nahm sie Johnny mit, der zwischen den Felsen kleine Schiffe aus Geröll baute oder Eidechsen beobachtete. Am liebsten aber saß sie allein hier oben, um ungestört ihren Gedanken nachhängen und aufs Meer hinausblicken zu können.
Die Insel Guadeloupe lag bei halbwegs günstigen Windverhältnissen nur eine Tagesreise von Dominica entfernt, doch die Fahrt mit der Schaluppe hierher war ein abenteuerliches und furchterregendes Unterfangen gewesen, obwohl Oleg und Jerry alles souverän gemeistert hatten. Das Boot war auch nach Einbruch der Dunkelheit nicht vom Kurs abgewichen. Jerry hatte Elizabeth gegenüber wiederholt beteuert, dass alles in bester Ordnung sei und dass er und Oleg das schon unzählige Male getan hätten, auf großen wie auf kleinen Schiffen. Es gebe keinen Grund zur Sorge, denn dank Mister Pebbles Seekarte wüssten sie den genauen Weg. Elizabeth hatte ihm es gern glauben wollen, dennoch hatten der stürmische Passatwind und der Wellengang sie um das Leben ihrer Kinder bangen lassen. In jener Nacht hatte sie kein Auge zugetan und so viel gebetet wie seit Jahren nicht. Deirdre hatte mit den beiden Kleinen auf den Planken gekauert, mit einem Wachstuch notdürftig gegen die brausenden Elemente abgeschirmt, während Elizabeth mit einem Kübel das hereingeschlagene Wasser aus dem Boot schöpfte. Oleg und Jerry hatten Segel und Ruder bedient und nach Sternenstand und Kompass die Schaluppe durch die Finsternis manövriert, bis im Morgengrauen endlich der Umriss einer Insel vor ihnen aufgetaucht war. Sie waren an dem winzigen Eiland, das Basse-Terre vorgelagert war, vorbeigesegelt, hinüber zur Westküste der Hauptinsel, die von Anfang an ihr Ziel gewesen war. Miss Jane hatte ihnen geraten, auf Guadeloupe ihr Glück zu versuchen. Sie kannte einige der hier lebenden Siedler von früher und hielt große Stücke auf sie.
Das Dorf bestand aus einer Ansammlung von Holzhäusern und lag zu Füßen eines hoch aufragenden Bergs, dessen Gipfel oft von Wolken umhüllt war. Basse-Terre, der westliche Teil der Doppelinsel Guadeloupe, war stärker besiedelt als Dominica. Es gab, auf mehrere Dörfer verteilt, ein paar Hundert französische Siedler, die der Wildnis die
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