Wind der Gezeiten - Roman
sie selbst gewesen und ihre Mutter noch am Leben, hätte sie nach dem Mittagessen mit Lady Harriet auf der Veranda des Herrenhauses gesessen und Tee getrunken. Sie hätten beide eine kleine Stickarbeit auf den Knien gehabt und in aufgeräumter Stimmung über Gott und die Welt geplaudert. Später hätte Anne vielleicht in ihrer Schlafkammer ein Nickerchen gehalten, oder sie hätte sich von der Magd, die sich aufs Schneidern verstand, ein neues Kleid anpassen lassen. Am späten Nachmittag, wenn die Schatten länger wurden, hätte sie sich wieder zu Lady Harriet auf die Veranda gesetzt, diesmal mit einem Buch, und dort den Ausklang des Tages genossen, bis irgendwann William zum Essen eintraf und seine Mutter und seine Schwester auf seine launige, unterhaltsame Art an den Ereignissen des Tages teilhaben ließ, die er auf dem Feld erlebt hatte. Zu dritt hätten sie dann dort bis lange nach Einbruch der Dunkelheit gesessen, und sie selbst wäre hin und wieder lautlos auf der Veranda erschienen und hätte sich erkundigt, ob die Herrschaften noch etwas wünschten.
» Bring bitte noch Tee, Kind « , hätte Lady Harriet gesagt. Oder aber: » Nein, danke, wir haben alles, was wir brauchen. Du kannst jetzt zu Bett gehen, Kind. «
William hätte aufgeblickt und sie angelächelt, vertraut und voller Zuneigung, und sie hätte kurz geknickst und sich zurückgezogen.
Heute knickste sie nicht mehr. Sie neigte nicht den Kopf und beugte nicht das Knie, vor niemandem mehr. Sie war frei.
An einem Abend vor gut zwei Monaten war William auf Krücken an den Strand gehumpelt. Er hatte sich dort auf die Felsen gesetzt, um aufs Meer hinauszuschauen. Als die Sonne unterging, war sie ihm gefolgt, um ihn, wie sonst auch immer, zu fragen, ob er noch etwas brauche. Er hatte aus geröteten Augen zu ihr aufgeblickt.
» Hat dich eigentlich jemals ein Mensch gefragt, ob du etwas brauchst, Celia? «
Sie hatte nur stumm und ein wenig überrascht den Kopf schütteln können.
» Künftig wirst du mich das nicht mehr fragen müssen, Celia. Ich hatte dir das schon längst sagen wollen. Ab sofort bist du keine Sklavin mehr. Du bist frei. «
Ja, sie war frei. Celia gönnte sich ein bitteres Lächeln, während sie, Anne im Schlepptau, mit Tee und Keksen zum Feigenbaum hinüberging und nicht zum ersten Mal darüber nachsann, was Freiheit für eine Mulattin wirklich bedeutete. Von Barbados fortgehen? Das sagte sich so leicht, aber wem hätte sie sich anschließen sollen? Akin, der sie von der Insel hatte fortbringen wollen, weit weg ins Land seiner Väter, war nicht mehr am Leben. Sie hatte niemanden außer William und Anne, also blieb sie hier. Davon abgesehen brauchten die beiden sie, denn auch sie hatten sonst niemanden, so seltsam diese Feststellung auch anmuten mochte.
Sie bekam ein bisschen Geld für ihre Arbeit, so viel wie die anderen Mägde auch, zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. William hätte ihr sicher gern mehr gegeben, das wusste sie, aber durch den Hurrikan war ein Großteil der letzten Ernte vernichtet worden. Die finanziellen Mittel auf Summer Hill waren knapp, zumal auch das Haus neu aufgebaut werden musste. Dutzende Sklaven, Knechte und Mägde mussten verköstigt werden, viele hätten längst neue Schuhe oder Kleidung gebraucht, aber das musste warten, bis die nächste Ernte verkauft war.
Natürlich hätte sie ihr Heil im Hafen suchen können, wo hübsche junge Frauen wie sie immer willkommen waren. Claire Dubois, die bekannteste Bordellwirtin von Bridgetown, hatte ihr schon vor Jahren angeboten, bei ihr zu arbeiten. Celia unterdrückte den Drang auszuspucken. Stattdessen setzte sie ein unnahbares Lächeln auf und servierte dem Gast Tee und Kekse.
Elizabeth sah erhitzt und mitgenommen aus. Ihr Haar war zerzaust, die Wangen von der Wärme gerötet, das Kleid rettungslos zerknittert und durchgeschwitzt. Doch weder die erkennbare Erschöpfung noch die fortgeschrittene Schwangerschaft konnten ihrer Schönheit etwas anhaben. Ihre amazonenhafte Grazie, das honigblonde Haar, die türkisfarbenen Augen, die pfirsichzarte Haut– es konnte niemanden wundern, dass sie William mit solcher Nachhaltigkeit in ihren Bann gezogen hatte. Mit ihrer bloßen Gegenwart schaffte sie mühelos, was nichts und niemand sonst vermochte, schon gar nicht etwas so Banales wie Ragout oder Kekse– sie heiterte ihn auf und brachte seine Augen zum Strahlen.
Celia fühlte sich unter Elizabeths forschenden Blicken linkisch und nutzlos. Sie hatten im
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