Wind der Gezeiten - Roman
Steineiche und band ihn dort an einer Stelzwurzel fest. Von hier aus war es nicht mehr weit. Noch eine kurze Kletterpartie den Hügel hinauf, dann hinter einem Riesenfarn ein Stück weit nach links ins Dickicht hinein, und schließlich von der Anhöhe noch hundert Schritt in die Senke hinunter, in der Edmond seine Hütte inmitten einer Felsformation errichtet hatte. Früher hatte er seinen Unterschlupf an einer anderen Stelle gehabt, doch dieser Ort war während des Aufstands von Sklavenjägern entdeckt worden, worauf er sich einige Meilen davon entfernt eine neue Behausung gesucht hatte. Zu den Gottesdiensten, die er inmitten dieser Wildnis an den Sonntagen abhielt, fand sich allerdings kaum noch jemand ein. Die irischen Knechte und Mägde fürchteten sich vor Strafe, wenn sie offen ihren Glauben lebten. Nur selten wagte es einer, sich von der Plantage seines Dienstherrn fortzustehlen, um zur Beichte zu gehen oder die heilige Kommunion zu empfangen.
Dessen ungeachtet hielt Edmond unverzagt die Stellung. Sein Gottvertrauen war durch nichts zu erschüttern.
Deirdre ließ den vereinbarten Pfiff hören, während sie sich durch das Pflanzengewirr vorankämpfte. Man sah die Hütte erst, wenn man direkt davorstand. Sie bestand aus kaum mehr als ein paar behelfsmäßig zusammengezimmerten Brettern, deren Ritzen notdürftig mit Erde und Moos ausgestopft waren. Edmond hockte auf einem umgestürzten Baumstamm und rasierte sich mit dem Messer, das sie ihm unlängst mitgebracht hatte. Den kleinen Handspiegel hatte er in eine Astgabel geklemmt. Strahlend blickte er ihr entgegen.
» Deirdre! Du kommst gerade richtig, um mir den Spiegel zu halten. Er rutscht ständig weg, ich habe mich schon zweimal geschnitten. «
Tatsächlich floss ihm Blut aus frischen Schnitten, einer unter dem rechten Ohr, einer neben der Nase. Sie lüpfte ihren Rock, zog den Saum ihres Unterkleids hervor und tupfte ihm mit einer sauberen Stelle die Kratzer ab, bevor sie ihm das Messer aus der Hand nahm.
» Lass mich das machen. Du bringst dich nur damit um. «
Wie immer rührte es sie, wie sehr er trotz der widrigen Umstände, unter denen er lebte, auf seine Körperpflege bedacht war. Er schabte sich nicht nur einen um den anderen Tag den Bart, sondern reinigte sich auch die Zähne mit dem Putztuch und der Paste, die sie für ihn zubereitet hatte, und die beiden Hemden, die er besaß, wusch er jede Woche im nahen Bach. Deirdre stutzte ihm gelegentlich das Haar und stopfte sein Wams, wenn es nötig war. Sie brachte ihm regelmäßig Essen mit, so wie an diesem Tag auch– Käse und Maisbrot und ein paar hart gekochte Eier, lauter Leckerbissen, mit denen er tagelang seinen kargen Speisezettel anreichern konnte.
Während sie ihm die Bartstoppeln abschabte, sah sie seine schmalen Handgelenke, und als er sich vorbeugte, um sich besser im Spiegel betrachten zu können, bemerkte sie auch seine hervorstehenden Rippen. Er war in den letzten Wochen noch dünner geworden, was an der Fastenzeit lag. Als müsste er sich hier in dieser Wildnis nicht schon genug plagen, hatte er es sich auch noch in den Kopf gesetzt, den Herrn durch zusätzliche Askese zu ehren, indem er sich nur noch das Nötigste an Nahrung gönnte. Zum Glück waren es nur noch ein paar Tage bis Ostern.
Sie war fertig mit der Rasur und klappte das Messer zusammen, während sie das Ergebnis ihrer Arbeit prüfte. Sein Gesicht sah jung und frisch und wehrlos aus. Edmond war fünfundzwanzig, aber manchmal kam es Deirdre so vor, als sei sie die Ältere und er so arglos wie ein Kind. Er glaubte immer noch an das Gute im Menschen, obwohl ihm bereits vielfach und auf grausame Weise das Gegenteil bewiesen worden war. Seine Kleidung, die er immer so eifrig wusch, war zerlumpt und durchlöchert, seine Haut beständig von Mücken zerstochen, sein Gesicht verbrannt von zu viel Sonne. Sie hatte ihm einen Moskitoschleier besorgt, doch er vergaß meist, zum Schlafen darunterzuschlüpfen. Ihr Gewissen plagte sie immer häufiger, wenn sie ihn so sah, abgemagert, einsam und weit ab von allem, was ihm das Leben ein wenig hätte erleichtern können. Wäre sie bei ihm geblieben und hätte sie weiterhin sein Los hier im Wald geteilt, wäre er nicht in einem derart bejammernswerten Zustand. Sie hätte jeden Tag darauf geachtet, dass er genug aß. Vielleicht hätte sie ihn auch längst überredet, dieses Leben aufzugeben und endlich nach Dublin heimzukehren. Er hatte dort eine Zukunft. Sein Vater war wohlhabend und er
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