Wind der Gezeiten - Roman
Beinchen begannen sich zu runden, die Bäckchen nahmen Konturen an. Sie war, daran gab es nichts zu deuten, ein kerngesundes kleines Mädchen.
» Sie kommt nach dir « , hatte Duncan gemeint. » So temperamentvoll und lebenshungrig– ich wette, du warst als Baby genauso. «
Elizabeth hatte über seine launigen Worte gelacht, doch sie glaubte, dass er vielleicht recht hatte. Alle ihre Geschwister waren tot, drei Brüder von den Pocken hinweggerafft, eine Schwester im Kindbett gestorben und die andere an einer Blutvergiftung, und zwei weitere hatten das Säuglingsalter nicht überlebt. Nur sie selbst schien als Einzige vom Schicksal begünstigt zu sein. Kein Fieber, keine Krankheit hatten ihr bisher etwas anhaben können, sogar die furchtbare Geburt hatte sie ohne Folgen überstanden.
Niemand konnte jedoch voraussagen, ob ihr Glück von Dauer war, und in diesem Augenblick, da sie auf ihren Sohn und ihre Tochter hinabblickte und sich bewusst machte, wie gut der Himmel es bislang mit ihr gemeint hatte, erfasste sie eine leise Bangigkeit bei dem Gedanken, wie zerbrechlich dieses Glück war und wie vielfältig die Gefahren, die es bedrohten. In der Nacht, als Faith auf die Welt gekommen war, hatte ein Sturm die Elise bis in die Morgenstunden hin und her geschleudert, sie mit rasender Geschwindigkeit vor sich hergejagt und mehrfach fast zum Kentern gebracht. Einer der Matrosen war über Bord gegangen, und die achtern treibende Schaluppe war von Wellen fortgerissen worden. Der Bugspriet war gebrochen, viele Ellen Segeltuch zerfetzt. Elizabeth, die sich nach der schweren Geburt ohnehin dem Tode nah gefühlt hatte, war davon überzeugt gewesen, dass sich nun ihr Schicksal erfüllen und sie auf dem Grund des Meeres enden würde. Doch gütige Mächte hatten es anders gefügt. Beim ersten Tageslicht hatte der Ausguck Land gemeldet– eine Antilleninsel, die Duncan sofort wiedererkannte, da er schon dort gewesen war: Dominica. Dass der Sturm sie nicht weit aufs offene Meer hinausgetrieben hatte, sondern bis vor die Gestade dieser grünen Insel, war ein weiterer Beweis für die Gnade Gottes.
» Störe ich? « Duncan betrat das Zimmer, und sie lächelte ihn an, während er ihr den Kleinen abnahm und ihn durch die Luft schwenkte. Johnny jauchzte begeistert, seine Eifersucht war vergessen. Wenn sein Vater Zeit für ihn hatte, interessierte ihn nichts anderes mehr. Er quietschte, als Duncan ihn abküsste.
» Daddy, du kratzt! «
» Oh ja. Stimmt, ich habe mich heute noch nicht rasiert. « Duncan rieb sich über das stoppelbärtige Kinn, setzte den Jungen ab und beugte sich zu Elizabeth. Sie erwiderte seinen Kuss, der kurz, aber unverkennbar hungrig ausfiel. Sie spürte die Leidenschaft, die zwischen ihnen aufflammte, und als sie ihn anblickte, sah sie das Begehren in seinen Augen. Sie erwiderte seinen Blick mit einem stummen Versprechen. Nach der langen Enthaltsamkeit brannten sie beide darauf, wieder das Lager zu teilen, auch wenn die Umstände alles andere als passend dafür waren. Sie waren selten allein miteinander, schon wegen Faith, doch sie würden eine Möglichkeit finden, bevor Duncan wieder in See stach, das hatte Elizabeth sich geschworen.
Seine bevorstehende Abreise lastete auf ihr wie ein schwarzer Schatten. Es würde viele Wochen, wahrscheinlich sogar Monate dauern, bis er zurück war. Vor dieser langen Trennung fürchtete sie sich, so sehr, dass sie es vermied, überhaupt darüber zu sprechen. Wäre es nach ihr gegangen, wäre er einfach dageblieben. Sie hätten sich hier auf Dominica zusammen etwas aufbauen können, die Insel bot alle Voraussetzungen. Doch sie sah ein, dass ihm keine andere Wahl blieb, denn wenn sie künftig in Frieden und ohne Verfolgung leben wollten, musste er sich rehabilitieren, und dazu war es nötig, dass er in London bei den richtigen Stellen vorsprach. Admiral Ayscue würde ohne Frage rasch dafür sorgen, dass das über Duncan verhängte Todesurteil als das entlarvt wurde, was es darstellte– einen dreisten Versuch, in unredlicher Bereicherungsabsicht die Herrschaft des Commonwealth zu unterlaufen.
Elizabeth hatte überlegt, ob sie es wagen konnte, ihn auf der Reise zu begleiten, statt mit den Kindern hierzubleiben, doch Duncan war strikt dagegen. Bevor Faith nicht mindestens ein Jahr alt sei, so hatte er mit aller Entschiedenheit erklärt, wolle er ihr eine so lange Seereise unter keinen Umständen zumuten. Elizabeth hatte ihm, so schwer es auch fiel, letztlich recht geben müssen.
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