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Wind der Gezeiten - Roman

Wind der Gezeiten - Roman

Titel: Wind der Gezeiten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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mehr. « Mit seiner mageren Hand deutete er in die Runde. » Wir alle hier sind nämlich in drei Tagen eingeladen, auch du. «
    » Eingeladen? Wohin? «
    » Na, zum Tanz. « Sam ließ ein schauriges Lachen hören. » Zum Totentanz am Tyburn-Baum. «
    Das musste er nicht näher erklären. Jedes Kind kannte den großen Dreiecksgalgen, an dem man bis zu zwei Dutzend Menschen gleichzeitig aufknüpfte. Duncans Elend nahm ungekannte Ausmaße an. Hatte er schon vorher die ganze Zeit gefroren, so war das nichts gegen die eisige Kälte, die sich nun in ihm ausbreitete. Er hatte darauf vertraut, dass ihm mehr Zeit blieb. Wenn sich jedoch weder Ayscue noch Blake noch Montagu in der Stadt aufhielten, war niemand da, der ihm noch helfen konnte.
    Es fiel ihm immer schwerer, gegen die wachsende Hoffnungslosigkeit anzukämpfen. Nur der Zorn auf Eugene Winston half noch dabei. Dieser junge Schnösel hatte eine erstaunliche Durchtriebenheit bewiesen, indem er die Zeit, die Duncan auf Dominica verbracht hatte, für seine Zwecke genutzt hatte. Der Bursche hatte ganz richtig vorausgesehen, dass Duncan versuchen würde, in London an höchster Stelle gegen das Todesurteil zu intervenieren, und es war ihm tatsächlich gelungen, vorher eine Botschaft an die englischen Behörden zu übermitteln. Ausgesucht hatte er sich dafür offensichtlich jemanden, der in der Admiralität genug Einfluss und Autorität besaß, um die wachhabenden Offiziere auf das mögliche Erscheinen des zum Tode verurteilten Verräters vorzubereiten, zugleich aber auch sicherstellte, dass weder Blake noch Ayscue oder Montagu davon erfuhren– die einzigen Personen, die über die wahren Hintergründe von Duncans angeblichem Verrat Bescheid wussten.
    Die Stunden verstrichen in quälender Langsamkeit. Weil er in der Nacht so schlecht geschlafen hatte, döste Duncan immer wieder ein. Als sich gegen Mittag die Zellentür öffnete und das Essen verteilt wurde– ein grauer Brei aus Kohl und eingeweichtem Brot–, stellte sich zu Duncans Schrecken heraus, dass nicht der erwartete Wärter es brachte, sondern ein anderer, der Duncan kurzerhand mit dem Knüppel auf den Kopf schlug, als dieser sein Anliegen vorbringen wollte. Duncan blieb benommen im Dreck liegen. Sam half ihm vorsichtig, sich aufzusetzen.
    » Ehrlich, ich dachte, es ist derselbe, der mittags immer Dienst hat! « Sam war kaum weniger entsetzt als Duncan. Zuvor hatte es ihn fast euphorisch gestimmt, gleichsam noch auf dem Weg zum Galgen für die Zukunft seiner Tochter sorgen zu können.
    Die beiden folgenden Tage zogen sich zäh dahin. Duncan brummte der Schädel von dem Schlag mit dem Knüppel, aber dafür ließen die Schmerzen in der Schulter nach. Allem Unrat und Gestank zum Trotz wütete der Hunger in seinen Eingeweiden– und bald auch der Durchfall, der bei dem fauligen Wasser, das die Häftlinge zu trinken bekamen, nicht ausblieb. In Reichweite der Gefangenen stand ein Kübel, auf dem man seine Notdurft verrichten konnte– sofern er nicht gerade besetzt war. Fast immer saß irgendwer darauf, weshalb die Männer sich gezwungenermaßen auf den Boden erleichterten. Der Gestank war grauenvoll, Schlimmeres hatte Duncan in seinem ganzen Leben nicht gerochen außer in den Laderäumen der Sklavenschiffe.
    Am Tag vor der Hinrichtung brachte abermals ein anderer Wärter das Essen.
    » Ist er das? « , wollte Duncan leise von Sam wissen. Der schüttelte resigniert den zottigen Kopf, doch Duncan hatte nichts zu verlieren.
    » Willst du Geld verdienen? « , fragte er den Wärter. » Viel Geld? «
    Der Mann spie vor ihm aus und betrachtete ihn mit höhnischer Herausforderung.
    » Was will einer, der morgen am Tyburn-Baum baumelt, noch an Geld haben? «
    » Ich rede von Gold. Einer Menge davon. Das kriegst du, wenn du dafür sorgst, dass ich hier rauskomme. «
    In dem Verlies erhob sich wüstes Gelächter, und am lautesten lachte der Wärter. Er verpasste Duncan einen rohen Tritt in die Seite, bevor er den leeren Essenskübel nahm und ging.
    » Du musst nichts weiter tun, als eine Botschaft für mich zu überbringen! « , rief Duncan ihm hinterher. Doch der Mann schlug ungerührt die Zellentür hinter sich zu, während die Gefangenen sich unter durchdringendem Kettengerassel auf ihre Näpfe stürzten.
    Duncan tat etwas, womit er sich schon lange nicht mehr beschäftigt hatte– er fing an zu beten.
    Die folgende Nacht verbrachte er, steif vor Schmerzen und von grässlichen Albträumen gequält, halb schlafend, halb wachend,

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