Wind der Gezeiten - Roman
während die Männer um ihn herum ebenso wenig zur Ruhe fanden wie er. Leises Schluchzen, gemurmelte Gebete und unterdrückte Flüche erfüllten das dunkle Verlies. Jeder ging mit der Todesangst auf seine Weise um. Als der Morgen graute und der Wärter die schwere Tür aufschloss, kämpfte Duncan sich mühevoll auf die Beine. Geschwächt von Kälte und Hunger, konnte er sich kaum aufrecht halten und musste sich an der Wand abstützen. Es war leicht nachzuvollziehen, warum Sam und die anderen so abgezehrt und hinfällig aussahen– schon wenige Tage in diesem Loch reichten, um einen Mann aller Kräfte zu berauben.
Mehrere Wärter drängten sich in die Zelle. Sie waren in Begleitung eines Beamten erschienen, der mit gewichtiger Miene vor der Tür stehen blieb und laut die Namen der Verurteilten von einem Stück Papier ablas. Die Wärter lösten die Wandketten und trieben die Gefangenen einen nach dem anderen zur Tür hinaus. Lautes Wehklagen hallte von den Mauern des Verlieses wider. Vor allem Sam schluchzte und schrie, doch nicht um seinetwillen haderte er mit seinem Schicksal, sondern wegen seiner Tochter. Immer wieder stieß er weinend ihren Namen hervor. Bevor er fortgezerrt wurde, wandte er sich zu Duncan um, den die Wärter als Nächsten losketteten.
» Frag den Beamten da! « , stammelte er unter Tränen. » Er hilft dir vielleicht! Und vergiss nicht, was du mir versprochen hast, wenn es gelingt! «
Duncan zögerte nicht. Hastig wandte er sich dem misstrauischen Beamten zu.
» Zehn Goldstücke für Euch, wenn Ihr dem Parlamentspolitiker Sir Edward Montagu eine Botschaft von mir überbringt. Geht zu ihm nach Whitehall und richtet ihm aus, dass Captain Duncan Haynes dafür hängen soll, dass er die Insel Barbados an die englische Flotte ausgeliefert hat. Sagt ihm, der neue Gouverneur dort hat das Urteil gefällt, weil er hoffte, meine Frau werde mich loskaufen. «
Der Beamte, ein ältlicher Puritaner in abgeschabter Amtstracht, schien nicht darauf erpicht, sich das Flehen eines Todgeweihten anzuhören. Die argwöhnisch zusammengezogenen Brauen und die verkniffenen Mundwinkel sprachen Bände.
» Raus mit ihm und zu den anderen auf den Karren! « , befahl er knapp.
» Meine Frau ist die alleinige Erbin des Viscounts von Raleigh Manor! Ihr bekommt das Gold, das schwöre ich Euch als Ehrenmann! « Duncan fühlte sich erbärmlich, denn für den Beamten war er ersichtlich nichts weiter als ein winselnder Bittsteller, der ihm kostbare Zeit stahl. Doch er hatte keine Wahl. Wenn er sich zwischen seiner Würde und seinem Leben entscheiden musste, kam das Leben zuerst. Er durfte nichts unversucht lassen. Als seine Bitten nichts fruchteten, verlegte er sich aufs Drohen. » Alles, was ich sage, ist wahr! Sir Montagu weiß, was ich für das Commonwealth getan habe. Deshalb wird er darauf bestehen, das Todesurteil zu lesen, und dann wird er sogleich sehen, dass es sich um ein Komplott gegen mich handelt. Er wird Euch aufs Schafott bringen, wenn er erfährt, dass Ihr mich dem Henker überlassen habt! Und er wird es erfahren, denn nicht nur mit Sir Montagu bin ich gut bekannt, sondern auch mit den Admirälen Blake und Ayscue. Auch die werden Euren Kopf für diese Tat fordern. Dann könnt Ihr noch so sehr um Gnade betteln. « Er stolperte über seine Fußfesseln, während ihn die Bewaffneten hinauszerrten. » Ihr könnt Euch entscheiden – Gold oder Tod! Ich bin Captain Duncan Haynes, hört Ihr? Merkt Euch diesen Namen gut, Ihr werdet ihn nämlich noch verfluchen, denn er wird das Letzte sein, an das Ihr denkt, wenn Euer Kopf auf dem Richtblock liegt und das Beil des Henkers auf Euren Nacken niedersaust! «
Er brüllte es voller Zorn heraus, doch die barschen Befehle der Wärter übertönten seine Stimme, er wurde geschlagen und getreten und weitergeschubst, hinaus ins Freie. Geblendet vom hellen Tageslicht schloss er die Augen, und als er sie wieder öffnete, sah er den großen Ochsenkarren vor sich. Der Reihe nach wurden die Männer hinaufgedrängt, er selbst als Letzter, obwohl er sich verzweifelt wehrte. Einer der Wärter half mit einem brutalen Knüppelschlag auf Duncans Hinterkopf nach.
Benommen fiel Duncan zwischen die stöhnenden und klagenden Gefangenen auf den schmutzigen Boden des Karrens, den Kopf zwischen die aneinandergeketteten Arme gezogen, um sich vor weiteren Hieben zu schützen. Doch das Gefährt setzte sich bereits in Bewegung und geriet außer Reichweite des immer noch schimpfenden Wärters. Holpernd
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