Wind der Gezeiten - Roman
rollte der Karren vorwärts. Mit jedem Schritt des dahintrottenden Ochsen verringerte sich die Entfernung zwischen Gefängnis und Richtstätte. Duncan lauschte dem Rumpeln der Räder, das sich mit dem Hämmern in seinen Schläfen zu einem steten Rauschen vereinte. Sein Kopf rollte auf den Bodenbrettern des Karrens haltlos hin und her. Ihm war schwindlig, immer wieder wurde ihm schwarz vor Augen. Von ferne war bereits das Johlen der versammelten Menschenmenge zu hören. Der Tanz am Tyburn-Baum war ein beliebtes Spektakel, an Hinrichtungstagen drängten sich dort unzählige Besucher. Sogar Tribünen wurden für die Zuschauer gebaut, damit möglichst viele etwas davon hatten. Duncan selbst hatte noch nie dabei zugesehen, aber schon oft gehört, wie es vonstattenging.
» Gut gestorben! « , schrien die Leute, wenn ein Delinquent fromme und reumütige letzte Worte sprach und anschließend ohne Geflenne den Henker seine Arbeit tun ließ. Und sie pfiffen diejenigen aus, die vor Todesangst schrien, während der Karren langsam unter ihren Füßen weggezogen wurde. Dafür jubelten die Zuschauer umso lauter, wenn die jammervollen Gestalten ihren zuckenden Totentanz am Strang vollführten und dabei ihre Gedärme entleerten.
Duncan fragte sich, wie er selbst wohl sterben würde, doch im Grunde wusste er es bereits: mit einem Fluch auf den Lippen. So wie es sich für einen Piraten geziemte. Und er wollte sich nicht zur Erheiterung der Meute am Galgen zu Tode zappeln, sondern mit dem Strick um den Hals vom Karren springen, unter Aufbietung aller Kraft, die er aufbringen konnte. Wenn er Glück hatte, starb er am Genickbruch, statt langsam von seinem eigenen Gewicht stranguliert zu werden.
Bei dem Gedanken, die Gaffer um das erwartete Schauspiel zu bringen, überkam ihn eine seltsame Ruhe, aber dann merkte er, dass ihm lediglich abermals die Sinne schwanden. Am Rande der Bewusstlosigkeit trieb er in einem Meer aus Grau und wartete darauf, dass es wieder heller wurde, doch ein harter Tritt eines Mitgefangenen, ob absichtlich oder aus Versehen, traf ihn an der Schläfe. Schmerz explodierte hinter seinen Augen und erfüllte ihn mit gnädiger, alles auslöschender Schwärze.
Dritter Teil
Dominica
Sommer 1652
19
Z ena wiegte das Baby in ihren Armen und sog dabei tief den unverwechselbaren Duft des Kindes ein, ein Gemisch aus warmer, blütenzarter Haut, halb vergorener Milch und etwas Unbenennbarem, Süßem, das sie mit schierer Freude erfüllte. Zena war sicher, dass es der Geruch von Glück war, und sie glaubte, dass nur Kinder ihn verströmten, die in Liebe gezeugt worden waren. Sie hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass das Kind, das der stinkende Barbar ihr aufgezwungen hatte, niemals diesen Geruch hätte entfalten können. Es war eine faulige Frucht gewesen, die in ihrem Leib herangewachsen war, und deshalb war es gut, dass das Meer sie verschlungen hatte, bevor sie reif werden konnte. Manchmal dachte sie noch daran, aber nicht oft, und das Wissen, den bärtigen Fremden mit eigenen Händen verscharrt zu haben wie Aas, versöhnte sie mit dem erlittenen Unrecht. Andere Weiße hatten ihn wieder ausgegraben und suchten nach den Mördern, so viel hatte sie mitbekommen. Doch ihre Sorge darüber hielt sich in Grenzen, denn die Herrin würde sie gewiss nicht verraten, und außer ihr wusste niemand, was geschehen war. Das Messer, das sie von dem Mann erbeutet hatte, trug Zena nicht bei sich, sondern hatte es gut versteckt. Wenn sie zu ihrem Dorf zurückkehrte, würde sie es mitnehmen.
Zena murmelte und lachte mit der Kleinen und wurde von einem sabbernden Lächeln belohnt, bei dem sich Grübchen in den kleinen Wangen bildeten. Die Augen des Kindes waren hell wie der Himmel, umgeben von einem Strahlenkranz dunkler Wimpern, ein Anblick von so berückender Schönheit, dass Zena den ganzen Tag darin hätte versinken mögen. Die milchige Haut und das von goldenem Haarflaum bedeckte Köpfchen waren empfindlich. Zena achtete sorgsam darauf, dass die Kleine nie direkter Sonneneinstrahlung ausgesetzt wurde. Sie hütete das Kind wie einen Augapfel, stillte es und trug es umher, wenn es weinte, wickelte und wusch es in angewärmtem Wasser, wenn es die Windeln voll gehabt hatte, und wachte über seinen Schlaf, wenn es in der Wiege lag. Die Herrin vertraute ihr voll und ganz und war glücklich, eine so gute Amme für das Kind gefunden zu haben. Sie stillte das kleine Mädchen noch hin und wieder selbst, doch ihre Milch würde, wie Zena
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