Wind des Südens
letzten Besuch geglaubt hatte, irgendjemanden oder irgendetwas gesehen zu haben. Nervös, bereit, beim geringsten Anzeichen davonzulaufen, spähte sie ins Wohnzimmer und dann in eines der Schlafzimmer. Da ihr dort nichts Ungewöhnliches auffiel, wandte sie sich um, überlegte es sich dann aber anders und ging weiter, in der Absicht, einen Blick auf die dem Zimmer vorgelagerte Veranda zu werfen.
Kaum hatte sie den Raum betreten, hörte sie ein Scharren und wusste, dass jemand im Zimmer war und sich auf der anderen Seite des Betts auf dem Boden versteckte.
»Kommen Sie raus«, forderte sie den Burschen auf, mit einer Stimme, die entschieden kraftvoller wirkte, als sie sich fühlte. »Was tun Sie da, Sir?«
Das Gesicht, das dann auftauchte, erschreckte sie. Es war kein Mann, sondern eine Frau! Es war Constance Horwood, und sie sah aus wie etwas, das die Katze angeschleppt hatte.
»Gütiger Himmel!«, rief Eleanor. »Was tun Sie hier?«
Sie war so angewidert von der verschmutzten Frau, die in einem Nest aus Wolldecken auf dem Boden kauerte, dass sie ein paar Minuten benötigte, um Mitleid aufbringen zu können.
»Constance«, flüsterte sie und näherte sich ihr. »Meine Liebe. Fehlt Ihnen was?«
Als sie keine Antwort erhielt, ließ Eleanor sich auf den Wolldecken nieder. »Du liebe Zeit, Sie haben mir vielleicht einen Schrecken eingejagt. Ich dachte, eine Maus wäre im Zimmer. Welch eine Erleichterung, stattdessen Sie vorzufinden.«
Sie streckte die Hand aus und strich Constance das wirre Haar aus dem Gesicht. »Ich dachte immer, Sie haben so schönes blondes Haar. Haben Sie keinen Kamm mitgenommen?«
»Nein«, sagte Constance, faltete die Hände und wandte den Blick ab.
»Ich habe auch keinen. Aber das ist jetzt gleichgültig. Warum sind Sie hier in Mr. Kincaids Haus?«
Constance schüttelte den Kopf, versuchte, ihr zerknittertes Baumwollkleid glatt zu streichen und blickte Eleanor dann hilflos an. »Ich weiß es nicht.«
»Ah, verstehe.« In Wirklichkeit verstand Eleanor freilich überhaupt nichts. Sie überlegte, was sie tun konnte, um die Frau nicht noch mehr zu verängstigen. Mrs. Horwood wirkte über alle Maßen aufgewühlt.
»Möchten Sie eine Tasse Tee?«, fragte Eleanor munter.
»Ja, bitte.«
»Gut. So machen wir’s. Wir brühen uns jetzt eine Tasse Tee auf.«
Eleanor richtete sich auf, strich ihren Rock glatt und reichte Constance die Hand, um ihr aufzuhelfen, doch als die Frau zurückschrak, versuchte sie es mit Strenge. »Los, Constance, stehen Sie auf.«
Sie hatte Erfolg. Sie wartete geduldig, bis Constance sich sehr langsam und mit sichtbarem Widerstreben zuerst auf die Knie erhob und dann aufstand und mürrisch und traurig stehen blieben.
»Wo sind Ihre Schuhe?«
»Ich weiß nicht.«
»Meine Güte, die Schuhe? Wo könnten sie sein?« Eleanor suchte das Zimmer ab, bis sie sie fand, drückte Constance aufs Bett und zog ihr die Schuhe an. Dann half sie ihr, aufzustehen – sie hatte den Eindruck, es mit einem verschlafenen Kind zu tun zu haben, das sie zum Gehen bewegen wollte.
»Gehen wir!«
An der Küchentür sperrte Constance sich plötzlich. »Nein!«, schrie sie. »Ich gehe nicht nach draußen!«
Der plötzliche Schrei ließ Eleanor zusammenfahren. »Gütiger Gott!«, sagte sie verärgert. »Tun Sie das nicht noch einmal! Sie haben mir einen Höllenschrecken eingejagt. Hier gibt es keinen Tee, also müssen wir ihn woanders trinken.«
»Ich bleibe lieber hier.«
»Nun gut, dann setzen Sie sich an den Küchentisch und nennen Sie mir den Grund.«
Eine Zeit lang saßen sie schweigend da. Eleanor besorgte ein Glas Leitungswasser aus dem Hahn in der Küche, etwas Essbares fand sie jedoch nicht.
»Wie lange sind Sie schon hier?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort kannte.
»Seit Tagen.«
»Sie müssen doch umkommen vor Hunger. Ist es da draußen so schlimm, dass Sie lieber verhungern wollen?«
»Ich habe mich dabei nicht wohl gefühlt.«
Schließlich gelang es Eleanor doch noch, sich aus Constances Antworten so viel
Weitere Kostenlose Bücher