Wind des Südens

gereizt. »Wo ist denn dieser verdammte Haupteingang?«
            »Wie du sehen kannst, gibt es keinen. Also ist vermutlich das Verwaltungsgebäude der Mittelpunkt. Da sind wir ja schon. Hier die Stufen hinauf und dann dort entlang.«
            In der kahlen Vorhalle wurden sie von einer jungen Frau empfangen, die sie zur Oberschwester führen sollte. »Sie freut sich so darauf, Sie zu sehen, Miss Lewis«, sprudelte sie hervor.
            Oberschwester Bassani war eine gedrungene Frau mit einem breiten Lächeln, das ein fehlender Schneidezahn aus dem Gleichgewicht brachte. In dem offensichtlichen Versuch, sich beliebt zumachen, brachte sie die Besucher in einen kleinen, bedrückenden Salon neben ihrem Büro, wo sie ihnen Tee und Obstkuchen servierte.
            »Ich bin ja so froh, dass Sie hier sind, Miss Lewis«, sagte sie beim Einschenken. »Ich habe von Ihrer Hilfsorganisation und der wichtigen wohltätigen Arbeit, die sie leistet, gehört und kann Ihnen sagen, dass wir hier jeden Penny dringend nötig haben. Die Regierung tut zwar ihr Bestes, und wir dürfen uns eigentlich nicht beklagen. Doch mit zusätzlichem Personal könnten wir noch viel mehr für unsere Patienten tun.«
            Sie wandte sich an Raymond. »Ist Ihre Frau auch Mitglied der Liga?«
            »Mein Bruder ist verwitwet«, erwiderte Lavinia. »Verraten Sie mir, Oberschwester, warum tragen die Patienten um diese Uhrzeit Nachtkleidung?«
            Die Oberschwester blickte sie an, blinzelte und lachte dann gönnerhaft auf. »Weil sie Patienten sind, meine Liebe. Sagen Sie mal, Mr. Lewis, was machen Sie denn beruflich?«
            »Ich bin Anwalt, Madam.«
            Die Oberschwester kicherte. »Ach, du meine Güte, so ein wichtiger Mann. Hoffentlich nehmen wir Ihre kostbare Zeit nicht allzu sehr in Anspruch. Ich bewundere Anwälte und den Mut, mit dem sie uns vor kriminellen Elementen schützen.«
            »Ich dachte, das wäre eher die Aufgabe der Polizei«, meinte Lavinia herablassend.
            »Ach, aber sobald die Übeltäter in Haft sind, ist ein juristisch geschulter Verstand nötig, der dafür sorgt, dass sie sich nicht wieder herauswinden. Ich gehe oft zu Gerichtsverhandlungen, um mir die Dramen dort anzusehen. Demnächst werde ich Ausschau nach Ihnen halten, Mr. Lewis. Sicher ist es aufregend, einen Menschen, den man kennt, vor dem Richter und den Geschworenen zu sehen.«
            »Hmm, ja«, brummte Raymond und erntete dafür einen strafenden Blick von seiner Schwester. »Ob wir uns jetzt einmal umschauen könnten, Oberschwester?«
            »Aber gewiss, Mr. Lewis. Doch ich muss Sie warnen. Einige unserer Patienten leiden unter Zuständen, um es einmal so zu nennen.« Sie wandte sich an Lavinia. »Miss Lewis, Sie könnten das als verstörend empfinden. Möchten Sie lieber hier warten, während ich Mr. Lewis …«
            Lavinia leerte ihre Teetasse. »Zerbrechen Sie sich meinetwegen nicht den Kopf, Oberschwester. Ich komme gern mit.«
            Als sie sich auf dem Weg machten, schritt die Oberschwester mit Raymond vorneweg, so dass Lavinia wutschnaubend die Nachhut bilden musste.
            Zuerst zeigte man ihnen einen Aufenthaltsraum, wo sich apathische Patienten im Nachtgewand versammelt hatten. Einige standen nur herum, manche saßen auf schmucklosen Stühlen und Sofas, und andere hatten sich auf dem Boden niedergelassen oder lehnten an der Wand. Es waren bemitleidenswerte Gestalten, ungepflegt und schmutzig und mit verwirrten und verzerrten Gesichtern. Die Besucher schienen sie gar nicht wahrzunehmen.
            »Sie sind so ruhig«, flüsterte Lavinia, worauf die Oberschwester strahlte.
            »Finden Sie das auch? Wie Sie sehen, werden sie gut versorgt und sind deshalb zufrieden.«
            Erstaunlich, was eine kleine Dosis Laudanum so alles bewirken kann, dachte Raymond, während er den Raum nach Constance absuchte.
            Nebenan befand sich ein menschenleerer Speisesaal. Ein paar Stufen tiefer lag die bemerkenswert saubere Küche, wo einige Frauen an der Arbeit waren. Im nächsten Gebäude, einem riesigen, ebenfalls menschenleeren Schlafsaal, waren die Betten ungemacht, und es stank nach Tabak und Urin.
            »Das ist der Männerschlafsaal«, verkündete die Oberschwester, anscheinend ohne Lavinias offensichtliche Missbilligung zu bemerken. »Es ist schon schwierig genug,