Wind des Südens
an einer ganzen Reihe von Krankheiten leiden, unter anderem an Hysterie. Das immerhin gestehe ich zu. Ich habe eine Todesangst, in die Öffentlichkeit zu gehen. Wie Sie sich erinnern, habe ich die Ernennung im Regierungspalast zwar durchgestanden, aber ich habe die Hände zusammengekrampft, bis sie bluteten – so sehr habe ich die Fingernägel ins Fleisch gebohrt. Deshalb konnte ich auch nicht zum Empfang kommen.«
»Das tut mir Leid.«
»Eine Kleinigkeit. Danach hat Lyle das Haus in Fortitude Valley gekauft; allerdings wurde es immer schlimmer zwischen uns. Lyle glaubt immer noch, dass ich vergewaltigt worden bin oder eine sonstige sexuelle Beziehung zu meinen Entführern hatte.«
»Gewiss nicht! Daran hat niemand auch nur im Traum gedacht!«
»Sie sind ein netter Mensch, Raymond. Ich danke Ihnen für Ihr Taktgefühl. Aber Lyle ist überzeugt davon. Und das Schrecklichste ist, dass mich immer wieder wildfremde Leute unverblümt fragen, was damals wirklich passiert ist. Unsere neue Haushälterin war erst eine Woche bei uns, als sie die Frechheit besaß, sich danach zu erkundigen. Ganz besorgt wollte sie wissen, ob mich diese Asiaten wirklich ›angerührt‹ hätten. Ich habe sie sofort vor die Tür gesetzt.«
»Selbstverständlich«, erwiderte Raymond empört.
Wieder ein Seufzer. »Ja, doch Lyle war da anderer Ansicht. Er fand, ich hätte mich mit der Frau zusammensetzen und in ihrer Gegenwart auf die Bibel schwören müssen, dass dieses Gerücht nicht stimmt … Und so hat er immer weiter auf mich eingeredet, bis ich vor lauter Verzweiflung losgeschrien habe. Ich habe gedroht, ihn zu verlassen. Um es kurz zu machen: Lyle rief einen Arzt, da ich es offenbar an den Nerven hätte, und so bin ich hier gelandet.«
»Freiwillig? Ich meine, waren Sie einverstanden damit?«
»Mit einer Irrenanstalt? Nein. Schließlich weiß ich, dass ich nicht verrückt bin. Ich hatte nur Schwierigkeiten, im Alltag zurechtzukommen. Aber sie haben mich trotzdem eingewiesen, und Lyle drohte, für den Fall, dass ich mich wehre, eine polizeiliche Anordnung zu besorgen.«
»Ach, du meine Güte!«
Oberschwester Bassani steckte den Kopf zur Tür hinein. »Die Besuchszeit ist um, Mr. Lewis.«
Raymond stand auf und ging zur Tür. »Oberschwester, ich brauche noch ein paar Minuten. Wenn Sie bitte so freundlich wären … Lady Horwood hat mich gerade als Rechtsbeistand verpflichtet. Deshalb habe ich das Recht, den Grund ihrer Einweisung in diese Einrichtung mit ihr zu erörtern.« Er sah die Oberschwester mit finsterer Miene an, während er besondere Betonung auf den letzten Satz legte. »Und zwar solange ich will.«
»Gut gemacht.« Constance lächelte. »Ich hatte ganz vergessen, dass Sie Anwalt sind.«
»Ihnen zu Diensten, Mylady.«
»Ausgezeichnet. Doch darüber möchte ich nicht mit Ihnen reden. Obwohl ich eigentlich nicht hierher wollte, stört es mich im Grunde genommen nicht. Offen gestanden ist es ein Vorteil, ein wenig Distanz zu Horwood zu gewinnen. Hier habe ich die Zeit, herauszufinden, was wirklich mit mir nicht stimmt, denn ich bin sicher, dass die Ärzte ebenso im Dunkeln tappen wie ich. Manchmal, so wie heute, bin ich ganz klar. Dann wieder nicht, und ich habe festgestellt, dass das mit meinen melancholischen Anfällen zusammenhängt. Wissen Sie, Raymond«, fuhr sie atemlos fort. »Ich bin ein gesunder Mensch, und ich …«
»Moment!«, rief er. »Warten Sie. Ich fürchte, so schnell kann ich Ihnen nicht folgen.«
Ihre Miene verdüsterte sich. »Halten Sie mich etwa auch für verrückt?«
»Nein, nein, nein! Ganz im Gegenteil, Sie schlagen sich wacker. Es liegt an mir. Ich komme nicht mehr mit. Also versuchen wir es einmal so: Sind Sie bereit, mich als Rechtsbeistand zu verpflichten?« Raymond wusste, dass Constance sich in dieser Situation eigentlich keinen Anwalt nehmen konnte, da man sie vor ihrer Einlieferung nach St. Clement’s sicher als »geistig unzurechnungsfähig« eingestuft hatte. Aber so würde er ihr wenigstens Mut machen.
»Ja, bitte. Gern.«
»Was halten Sie dann davon, dass ich morgen um drei wiederkomme? Dann haben Sie genug Zeit, sich zu überlegen, was Sie tun wollen. Heute habe ich Sie ja ziemlich
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