Wind des Südens
Chang war zwar dem Galgen entronnen, aber dennoch ums Leben gekommen, während seinem Diener Wu Tin nun der Strick drohte. Wie er Eleanor gegenüber anmerkte, fand er es kurios, wie schwer Mal die Sache nahm, insbesondere deshalb, da Chang schließlich vorgehabt hatte, ihn ebenfalls zu erschießen.
»Aber zu guter Letzt hat er es nicht übers Herz gebracht«, erwiderte Eleanor.
»Wer behauptet das?«
»Mal. Er wollte nicht, dass dieses Detail in die Zeitung kommt, also schreiben Sie bloß nichts darüber. Mal ist sehr niedergeschlagen und sagt, er und Chang wären wirkliche Freunde gewesen. Und … ach, ich weiß nicht, Jesse, es ist einfach sehr traurig.«
Zwei Tage später wurde die Leiche eines Ermordeten in die Leichenhalle von Cairns überführt.
»Wir haben ihn immer noch nicht identifiziert«, meinte Connor zu Jesse.
»Ich bringe Willoughby zu ihm. Der war schließlich monatelang auf den Goldfeldern.«
»Einverstanden«, erwiderte Connor. Dann musterte er Jesse argwöhnisch. »Ach, dein Freund Willoughby! Der scheint ein ziemlicher Pechvogel zu sein. Ständig gerät er in Schwierigkeiten.«
»Ja«, antwortete Jesse mit einem Nicken und fragte sich, wie Connor wohl reagieren würde, wenn Mal den Leichnam Tussups identifizierte. »Vielleicht sollte ich Mal besser raten, den Mund zu halten und den Ahnungslosen zu spielen, damit die Fragerei endlich aufhört. Er sollte die Sache auf sich beruhen lassen.«
»Aber ich glaube nicht, dass er meine Ratschläge zu schätzen wissen wird«, murmelte er dann. »Ich werde mich nicht mehr einmischen. Jetzt muss er allein zurechtkommen.«
Allerdings begleitete er Mal zur Leichenhalle und wartete draußen auf das Ergebnis.
Wenige Minuten später wusste er mehr.
»Es ist nicht Tussup.« Mal klang gereizt und enttäuscht. »Der Mann … der Tote ist viel zu alt. Aber er wurde in den Rücken geschossen. Jetzt weiß ich gar nicht mehr, wie ich Changs Behauptung verstehen soll. Glaubst du, es ist der Bursche, den er erschossen hat?«
»Ich halte nicht viel von Zufällen. Er muss es sein. Wo steckt also Tussup?«
»Zum Teufel mit Tussup!« Mal warf einen Blick zurück zur Leichenhalle. »Hierher habe ich Jun Lien gebracht, und du hast mir dabei geholfen. Ich habe mich nie bei dir bedankt, Jesse.«
»Du kannst mir ein Gläschen ausgeben. Und dann berichten wir Connor wahrheitsgemäß, dass du die Leiche nicht identifizieren kannst.«
»Wahrheitsgemäß? Warum hätten wir ihm denn nicht die Wahrheit sagen sollen?«
»Schon gut.« Die Antwort erinnerte ihn an den jungen Sonny Willoughby, den er vor vielen Jahren kennen gelernt hatte. Doch diesen Mann gab es längst nicht mehr. Auf dem Weg zum Polizeirevier musterte Jesse seinen Freund verstohlen. Das blonde Haar fiel ihm immer noch zerzaust ins gebräunte Gesicht, aber die Augen waren nun wacher, der weiche, fast weibliche Mund war fester geworden, und auch der Kiefer wirkte markanter.
Eleanor hatte Neuigkeiten für sie – und zwar solche, die sie nach Esmes Meinung lieber für sich hätte behalten sollen. Doch leider hoffte sie vergeblich. Eleanor bestand darauf, sofort in die Stadt zu eilen und Jesse alles zu berichten.
»Es geht um Jake Tussup!«, rief sie aus, als sie, gefolgt von Esme, in die Redaktion gestürmt kam. »Ich weiß, wo er ist.«
»Was? Wo?« Die Bombe, die Eleanor hatte platzen lassen, zeigte die gewünschte Wirkung. »Raus mit der Sprache! Verzeihung, Esme. Wie geht es Ihnen, meine Liebe? Und jetzt beruhigen Sie sich, Eleanor, und erzählen Sie mir alles.«
»Beruhigen Sie sich doch«, erwiderte sie lachend. »Also. Es ist Folgendes passiert: Heute habe ich einen Brief von Raymond Lewis erhalten. Er geht in den Ruhestand und will uns bald besuchen kommen. Außerdem schreibt er, Lady Horwood fühle sich nicht wohl. Sie leidet sehr, wozu sie auch wirklich allen Grund hat. Die Nerven des armen Mädchens sind zerrüttet, und Lyle missachtet ihre Bedürfnisse, als wäre er der Einzige, der zählt. Bei seiner ersten Frau, meiner lieben Cousine und Freundin, hat er es genauso gemacht. Und als sie krank wurde, verbot er ihren Freunden, sie zu besuchen. Er
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