Wind des Südens
ihn los. Frei! Sie hatte Lust, mit den Straßenmusikanten zu singen, als sie sich auf den Weg durch das Labyrinth begab.
Die Erklärungen des Fährmanns waren ihre keine Hilfe, und als sie sich eingestand, dass sie aus dem gut beleuchteten Gebiet in den dunklen Bereich der Schlafzelte geraten war, fand sie niemanden, den sie nach dem Weg hätte fragen können, abgesehen von ein paar abscheulichen Betrunkenen, die sie unflätig beschimpften. Und taumelnd setzte sie trotz der zahllosen Hindernisse, über die sie stolperte, ihre Suche fort. Sie stolperte über Zeltschnüre und Heringe, stürzte in die Asche eines Lagerfeuers, wankte in ein Zelt und wurde von den Bewohnern angeschrien, bis sie schließlich in einen Graben abrutschte und sich den Knöchel verletzte.
Und dort blieb sie liegen. Dort, hinter einem Gebüsch verborgen, fühlte sie sich sicher. Obwohl es stank, wollte sie hier bis zum Anbruch des Tages Unterschlupf suchen.
Später am nächsten Morgen fand Constance das Polizeizelt. Es stand hinter einer Reihe von im Bau befindlichen Holzhäusern, doch der Eingang war fest verschlossen und mit einem Schild versehen, das den Eintritt verwehrte.
Sie wollte sich so nicht abweisen lassen und fragte die Bauarbeiter in der Nähe, wo sie einen Polizisten finden könnte, doch die hatten keine Ahnung.
»Versuchen Sie’s im Krankenhaus«, riet ihr einer der Männer. »Folgen Sie einfach den Wagenspuren zum Hügel hinauf.«
Plötzlich wurde Constance bewusst, dass Bartie Lee und seine Männer inzwischen nach ihr suchen würden, und sie rannte, unter großen Schmerzen hinkend, zum Krankenhaus, ihrer Zuflucht.
Dieses war, wie sie zu ihrer Erleichterung feststellte, kein Zelt mehr, sondern ein lang gestrecktes, grob gebautes Haus mit einem Dach aus Palmwedeln. Die Zeltplanen wurden allerdings noch genutzt; über Stangen gespannt bildeten sie ein Dach, in dessen Schatten zahllose Menschen ruhten.
Das Krankenhaus war eine schlichte Anlage. Links die Männerstation, rechts die Frauenstation, und hinter dem schmalen Eingangsbereich hing ein Schild mit der Aufschrift: »Kein Zutritt«.
Constance wartete, bis eine Frau aus einer der Stationen kam, und fragte sie, wo sie einen Polizisten finden könnte.
»Die Polizeistation ist da unten.« Die Frau wies mit dem Finger den Hügel hinab und verschwand.
Danach fing Constance noch mehrere Frauen ab, doch alle waren offenbar zu beschäftigt, um ihr zuzuhören, bis auf eine, der ihr Hinken aufgefallen war.
»Falls Sie Ihren Fuß behandeln lassen wollen, Miss, müssen Sie sich da draußen in der Schlange anstellen.«
Erst jetzt sah Constance, dass die vielen Menschen, die geduldig unter den aufgespannten Zeltplanen ruhten, medizinische Betreuung benötigten.
»Nein, nein«, rief sie. »Sie verstehen nicht. Ich bin von der China Belle entführt worden und …« Sie sah, wie der Blick der Frau sich abwandte, als hätte sie sich bereits aus dem Gespräch ausgeklinkt. »Bitte«, flehte sie. »Ich bin Engländerin. Ich sollte eigentlich gar nicht hier sein. Ich bin verzweifelt und brauche Hilfe. Dürfte ich bitte hier bleiben, bis die Polizisten zurückkommen?« Sie hielt die Frau an der Schürze fest. »Bitte. Ich will Sie auch gut bezahlen, sobald ich kann, soviel Sie wollen. Wenn Sie mir nur helfen. Mein Mann ist sehr reich.«
»Ja, meine Liebe.« Die Frau löste Constances Finger von ihrer Schürze. »Beruhigen Sie sich. Setzen Sie sich da draußen hin, und bleiben Sie im Schatten. Bleiben Sie hier, der Arzt wird sich um Sie kümmern. Bald kommen die Damen von der Wohlfahrt und bringen Tee. Beeilen Sie sich, sonst kommen Sie zu spät.«
Der Tee und die Brötchen, ausgeteilt von den »Damen von der Wohlfahrt«, waren ein Gottesgeschenk, und Constance nahm ihre Portion freudig entgegen. Dann legte sie sich, dem Beispiel der anderen Patienten folgend, auf die Seite, um zu ruhen. Die Luft war schwer und feucht, alle waren still, einige schliefen. Dieser Tag erschien ihr so anders als die turbulente vorangegangene Nacht, und allmählich fragte sie sich, ob sie sich alles nur eingebildet hatte.
»Eines ist sicher«, sagte sie zu sich selbst. »Diese Matrosen werden es nicht wagen, mir zu nahe zu treten oder
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