Wind Die Chroniken von Hara 1
jede Frau beneidet, ebenso wie um das strahlende Lächeln. Er war etwas größer als die meisten Männer, breitschultrig und muskulös, insgesamt also eine imposante Erscheinung. Allerdings zierten ihn schmale, aparte Hände mit langen Fingern, wie sie bei guten Kriegern nur selten anzutreffen sind – doch Rowan stellte im Umgang mit dem Schwert jeden Sterblichen in den Schatten. Früher hatte sich allein Rethar mit ihm messen können.
Er trug ein weit geschnittenes, schwarzes Seidenhemd und Hosen von der gleichen Farbe. Keinen Schmuck, keine Waffe, keine Schuhe. Zu seinen Füßen saß eine zarte, blutjunge Frau aus dem Volk der Ye-arre, die trotz des kahl geschorenen Schädels als schön gelten durfte. Allerdings war einer ihrer schneeweißen Flügel gebrochen, offenbar eine frische Verletzung. Ihre Augen hingen an ihrem Herrn. Im Unterschied zu dem Verdammten baumelte an ihrem Gürtel eine kleine Klinge, die sie jedoch nicht zu ziehen beabsichtigte.
Typisch Rowan. Er genoss es, anderen Schmerz zuzufügen, ja, es war sogar ein tägliches Bedürfnis für ihn. Nichts hörte er lieber, als wenn seine Opfer um Gnade flehten, nichts sah er lieber, als wenn sie sich an den eigenen Tränen verschluckten und vor ihm krochen. Das größte Vergnügen bereitete es ihm jedoch, diesen Schmerz in blinde Liebe und Unterwerfung umzumünzen. Mit Magie und roher Gewalt brach er den Willen von stolzen Männern und Frauen, von Schmeichlern, Unterwürfigen und Feinden – und verwandelte sie in Diener und Tote. Niemand sonst umgab sich mit derart vielen toten Körpern, niemand sonst zog daraus einen derart unverfälschten Genuss.
»Du hast dir mit deiner Antwort Zeit gelassen«, sagte er anstelle einer Begrüßung. »Das ist alten Freunden gegenüber nicht sehr höflich. Wo bist du?«
»Du scheinst nicht gerade erstaunt über meinen Anblick«, überging sie seine Frage und zwang Pork, die Lippen zu einem Lächeln zu verziehen.
»In der Tat, das bin ich nicht«, erwiderte Rowan und schnipste mit den Fingern, damit ihm die Ye-arre einen Becher Wein reichte. »Allerdings hat mir dein Erscheinungsbild früher besser gefallen.«
Thia rang sich ein Lächeln ab – während sie fieberhaft darüber nachdachte, warum dieser Grabwurm so gelassen geblieben war und nicht einmal mit der Wimper gezuckt hatte, als er anstelle des vertrauten Gesichts von Thia die einfältige Visage dieses Trottels erblickt hatte. Im Grunde konnte es auf diese Frage nur eine Antwort geben: Talki!
»Was willst du?«, fragte Thia schließlich.
»Warum dieser Ton? Freust du dich etwa nicht, mich zu sehen?«
»Schluss jetzt!«, brüllte sie. »Sag mir, was du willst, oder verschwinde!«
»Wie schön, dass sich manche Dinge in unserer Welt niemals ändern. Du bist so grob wie eh und je. Selbst in diesem Körper. Im Übrigen wollte ich dir nur mitteilen, dass ich bald komme.«
»Wohin, falls das kein Geheimnis ist?«
»Nach Alsgara. Ich setze alles daran, so schnell wie möglich dort zu sein.«
»Soweit ich mich erinnere, bist du im Osten gebunden.«
»Das war ich. Aber inzwischen haben Ley und ich den Linaer Moorpfad genommen. Er befindet sich jetzt auf dem Weg nach Okny, trifft dann Alenari und zieht im Anschluss daran weiter zur Treppe des Gehenkten. Ich dagegen beabsichtige, mit einem Teil der Armee die Südliche Hauptstadt zu knacken.«
Rowan setzte ein strahlendes Lächeln auf und fuhr mit der Hand über die Wange der Ye-arre. Die erschauerte vor Vergnügen.
»Ich erkenne dich nicht wieder, Sohn des Abends. Seit wann neigst du zu solchem Leichtsinn? Alsgara mag eine verlockende Nuss darstellen, aber auch eine harte. Oder glaubst du etwa, die Mauern stürzten allein bei deinem betörenden Anblick ein, und die Tore sprängen auf, sobald du dich ihnen zeigst? In der Stadt wartet eine ganze Armee auf dich – und mindestens eine genauso große Zahl von Trägern und Trägerinnen der Gabe wie in der Hauptstadt.«
»Meine Truppen werden die Armee ins Meer jagen«, erwiderte Rowan gelassen. »Sieh mich nicht so an, Reiterin auf dem Orkan. Ich weiß, dass das Imperium gute Soldaten hat, aber dank der Kundschafter aus Sdiss weiß ich auch, dass sie uns zahlenmäßig unterlegen sind. In Bälde werde ich Burg Krähennest erobert haben, dann ist der Weg nach Alsgara frei. Wie gefällt dir meine kleine Freundin?«, fragte er dann plötzlich.
»Für gewöhnlich ziehst du doch Jungen vor.«
»Das ist eine Verleumdung«, fuhr er sie an. »Man könnte das Verhältnis
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