Wind über den Schären: Liebesgeschichten aus Schweden (German Edition)
auch Lasse einen weiteren freien Tag genehmigt. Morgen würde er dann zur Schule gehen und sie selbst ihre Stelle in der Kanzlei antreten.
Valerie räumte den ganzen Tag auf und freute sich über jeden leeren Karton, den sie zusammengeklappt in die Abstellkammer bringen konnte. Lasse half ihr zunächst eifrig, bevor er nachmittags mit dem Fahrrad nach Boxenberg fuhr. Beim Abendessen erzählte er Valerie, er habe ein paar Jungen kennengelernt, die die gleiche Schule wie er besuchten.
Valerie war erleichtert, dass ihr Sohn so schnell Anschluss fand.
Als Lasse im Bett lag, setzte sie sich auf einen der Stühle vor dem Haus und lauschte dem Plätschern der Wellen. Sie hatte sich im Verlauf des Tages immer wieder bei dem Gedanken an Markus ertappt, er war aber nicht persönlich aufgetaucht. Nun konzentrierte sie ihre Gedanken auf den morgigen Tag. Sie hoffte, dass die Mandanten der Kanzlei Stekkelson sie als neue Anwältin annehmen würden, schließlich war Ludvig Stekkelson seit Jahren ihr Ansprechpartner gewesen. Aber wenn ihr Leben hier in Boxenberg so weiterging, wie es begonnen hatte, musste sie sich darum vermutlich keine Gedanken machen.
Am nächsten Morgen begann für sie beide der Ernst des Lebens. Valerie lächelte, als ihr nach dem Aufwachen dieser Ausspruch in den Sinn kam. Ihre Mutter hatte ihn immer gesagt, am ersten Tag nach den Ferien. Wenn sie wieder in die Schule musste, nach herrlichen Wochen mit einem freien Leben bei den Großeltern auf dem Land.
Dabei war es nicht die Schule gewesen, die Valerie diesen Ernst des Lebens spüren ließ. Viel mehr hatte sie an ihrer Einsamkeit zu knabbern gehabt. Sie war viel alleine gewesen, schon sehr früh auf sich allein gestellt, weil die Mutter tagsüber arbeiten musste und die Großeltern zu weit weg wohnten, um sich täglich um das Kind zu kümmern.
Eigentlich habe ich meine Mama immer vermisst, schoss es Valerie durch den Kopf. Selbst damals, als sie noch lebte. Die Erinnerung an die Einsamkeit wog stärker als die schönen Momente, die sie auch mit ihrer Mutter gehabt hatte. Valerie wollte nicht, dass es bei ihrem Sohn später genauso war.
Sie schüttelte diese Gedanken schnell ab. Deshalb war sie ja mit ihrem Jungen aufs Land gezogen. Nun war sie hier und würde das Beste daraus machen.
Sie hatte den Frühstückstisch draußen gedeckt. Trotz der frühen Stunde war es schon ziemlich warm, und die Aussicht, mit Blick auf die Ostsee frühstücken zu können, war verlockend.
Lasse saß bereits am Tisch, seine Schultasche stand fertig gepackt neben ihm. Valerie hatte sich schon in Stockholm erkundigt, welche Bücher er in Boxenberg benötigte, und sich einen Stundenplan zuschicken lassen. Ihr Sohn war also bestens vorbereitet. Außerdem wirkte er entspannt und voller Vorfreude, bemerkte Valerie erleichtert. Ihm schmeckte es sichtlich.
»Bist du nervös?«, fragte sie ihren Sohn, als er sich den letzten Zipfel seines Brotes in den Mund stopfte und mit einem Schluck Milch hinunterspülte. »Wenn du willst, fahre ich dich doch.«
»Ich bin doch kein Baby«, erwiderte Lasse kopfschüttelnd. Er schien ein bisschen genervt, als Valerie ihm dieses Angebot nun zum dritten Mal machte.
Lass ihn los, ermahnte Valerie sich selbst. Dein Sohn wird selbstständig, und daran darfst du ihn nicht hindern.
Sie lächelte ihn an. »Okay, dann saus los. Ich wünsche dir einen schönen Tag.«
Lasse erwiderte ihre Umarmung kurz, hatte es aber offensichtlich eilig. »Ich dir auch«, sagte er, schulterte seine Schultasche und schwang sich auf sein Fahrrad.
Als er hinter der Kurve verschwunden war, war Valerie plötzlich von einer ungewohnten Geräuschkulisse umgeben. Ergriffen lauschte sie dem Rauschen der Wellen und dem Zwitschern der Vögel in den hohen Bäumen hinter dem Haus. Die Umgebung strahlte eine unglaubliche Ruhe und Beschaulichkeit aus. In Stockholm herrschte um diese Zeit der Trubel einer Großstadt im Morgenverkehr. Autolärm, Hupen, eilige Menschen. Eine Atmosphäre, die Hektik verbreitete.
Und auf einmal spürte Valerie, wie sie in all dieser Beschaulichkeit nervös wurde.
Sie atmete ganz tief durch, ließ die Umgebung auf sich wirken und spürte, wie die Anspannung nachließ.
Was war das denn?, fragte sie sich überrascht. Du hast jetzt genau das, was du haben wolltest, und plötzlich macht es dir Angst?
Sie versuchte rational darüber nachzudenken, und ihr wurde klar, dass es nicht das Neue war, das ihr Angst machte. Sie hatte vor allem Angst zu
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