Windbruch
Coordes“, rief die
Schwester nun, „Frau Coordes, können Sie mich verstehen?“ Wieder ging ein
leichtes Flattern durch Tomkes Lider, aber offensichtlich gelang es ihr nicht,
sie zu öffnen. „Es ist alles in Ordnung, Frau Coordes“, sprach die Schwester
mit beruhigender Stimme auf sie ein und drückte ihr die Hand. „Schlafen Sie
noch ein wenig.“
Tomkes Augen wurden ruhiger und
schon im nächsten Moment fiel ihr Kopf leicht zur Seite. „Jetzt wird es nicht
mehr lange dauern, bis sie wieder ganz wach ist“, lächelte die Schwester
Maarten zu. „Natürlich wird sie noch sehr schwach sein und viel Ruhe brauchen.
Aber das Schlimmste dürfte überstanden sein. Ich ruf dann mal bei den Eltern
an.“
Als die Schwester gegangen war,
brachen sich all die Gefühle, die sich in Maarten während der letzten Tage
aufgestaut hatten, Bahn. Er fing hemmungslos an zu schluchzen, ließ seinen Kopf
auf Tomkes Bett fallen und grub seine Hände in ihre Bettdecke. Als sich
plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte, schreckte er wieder hoch.
Verdattert schaute er sich um. „Geh jetzt besser nach Hause, Maarten“, sagte Tomkes
Mutter, „auch du brauchst deinen Schlaf. Wir passen in der Zeit auf Tomke auf.“
Müde rieb sich Maarten über das
Gesicht. Er hatte gar nicht gemerkt, dass er eingeschlafen war. „Sie war kurz
wach“, murmelte er mehr zu sich selbst, „sie hat gesprochen.“ Er zuckte
zusammen. „Oder habe ich das nur geträumt?“, fügte er mit Angst in den Augen
hinzu.
„Nein, das hast du nicht
geträumt. Die Schwester hat uns angerufen und wir sind dann gleich hergekommen.“
Sie umschrieb mit dem Arm einen weiten Bogen, denn außer ihr waren auch noch
ihr Mann und drei ihrer Söhne mitgekommen.
Maarten nickte ihnen zu und lächelte.
„Na, dann werde ich mich mal auf den Weg in die Federn machen. Ich bin wirklich
hundemüde. Bitte sagen Sie Tomke, dass ich heute Abend noch mal wiederkomme,
wenn sie aufwacht.“
Er rief gleich bei Franziska an,
als er im Auto saß und musste breit grinsen, als sie am anderen Ende in lautes
Indianergeheul ausbrach. „Das ist die beste Nachricht, die ich jemals im Leben
bekommen habe!“, jubelte sie. „Komm doch vorbei, dann können wir mit einem Glas
Sekt auf diesen Glückstag anstoßen!“, rief sie aufgedreht in den Hörer. „Und es
stimmt wirklich“, fragte sie, ohne seine Reaktion abzuwarten, „sie ist wirklich
wieder ganz wach?“
„Na ja“, sagte er, „ganz wach
geht anders. Aber sie ist auf einem guten Weg dahin. Und“, fügte er hinzu, „was
dein Angebot angeht: später gerne, aber nun muss ich erst mal ins Bett. Habe
die ganze letzte Nacht kein Auge zugetan.“
„Kein Problem“, antwortete
Franziska, „kann ich gut verstehen. Aber heute Abend kommst du auf jeden Fall
noch vorbei, o. k.?“
„Versprochen.“
„Meinst du, ich kann sie auch
bald mal besuchen?“
„Hm. Wird sicherlich noch ein
wenig dauern. Aber ich sag dir Bescheid. Tschüß!“
„Ach, Maarten“, rief Franziska in
den Hörer, als er gerade auflegen wollte, „freut mich sehr für euch beide. Ihr
seid ein tolles Paar.“
Über diesen letzten Satz von
Franziska dachte Maarten noch lange nach, während er sich mit seinem Auto durch
die Emder Straßen schlängelte. Ja, dachte er, Franziska hatte recht. Tomke und
er würden sicherlich gut zusammen passen. Nur, wollte sie ihn überhaupt? Wenn
er genau darüber nachdachte, hatte er die tiefe innere Verbundenheit erst
wirklich gespürt, als er Angst haben musste, sie zu verlieren. Aber sie? Fühlte
auch sie sich zu ihm hingezogen? Oder hatte sie ihn wirklich immer nur als
guten Freund aus der Kindheit betrachtet? Und selbst wenn sie einander liebten,
wie sollte eine Beziehung auf Dauer funktionieren? Denn er würde ja spätestens
zum Frühjahr hin wieder nach New York zurückkehren, während sie ein ostfriesisches
Gewächs war, das man nicht einfach so auf einen anderen Kontinent verpflanzte -
das hatte sie ja auch ausdrücklich betont.
Er seufzte laut auf und hatte das
Gefühl, dass seine Gedanken schon seit Tagen im Kopf Achterbahn fuhren, Runde
um Runde, um letztlich genau an dem Punkt wieder anzukommen, wo sie gestartet
waren.
Als er zuhause ankam, leerte er
zunächst seinen Briefkasten, aus dem die Werbeprospekte schon heraus quollen,
weil er seiner Post schon seit dem Unglück keine Beachtung mehr geschenkt
hatte. Achtlos warf er den Stapel Papier auf seinen Küchentisch. Er würde ihn
später durchsehen.
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