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Windkämpfer

Windkämpfer

Titel: Windkämpfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Redick
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hinter dem Rücken und lächelte sie voller Zuneigung an. Tascha schaute an sich hinab: Auf ihrer Bluse glitzerten kleine Pünktchen.
    »Zuckermesser«, sagte Hercól. »Sehr beliebt, überall in der Stadt spielen die Jungen mit diesem Plunder, es ist eine Schande.«
    »Ich hätte nie gedacht, dass ich meinen ersten Kampf gegen dich führen müsste.«
    »Du kannst froh sein, dass es so war.«
    Hercól war in der Zeit vor dem Lorg ihr Tanzlehrer gewesen. Aber Tascha hatte (über Vettern, die beim Heer dienten) erfahren, dass er auch Kampfunterricht erteilte – ja, dass er sogar aus Tholjassa stammte, jenem Land, aus dem sich Fürsten aus aller Welt ihre Leibwächter holten. Die Vettern flüsterten von großen Heldentaten in früheren Zeiten, aber Hercól sprach nie über seine Vergangenheit. Anfangs weigerte er sich auch, ihr Unterricht im Einzelkampf zu erteilen, bis sie anfing, sich von den Burschen auf der Straße gegen Bezahlung die Augen blau und die Nase blutig schlagen zu lassen. Täuschen konnte sie ihn mit dieser Taktik zwar nicht, aber sie überzeugte ihn davon, dass ihr Lerneifer echt war. Sein Preis: strengste Geheimhaltung, sogar vor ihrem Vater. Wenn es kein Gesetz gab, das verboten hätte, einem Mädchen beizubringen, wie man Schläge und Tritte austeilte und mit dem Messer umging, dann sicher nur deshalb, weil bisher noch niemand auf einen derart lästerlichen Gedanken gekommen war.
    »Sehen wir zu, dass wir wegkommen«, sagte er. »Selbst ich möchte mich hier im Dunkeln nicht lange aufhalten.«
    Sie gingen am Ool entlang. Fledermäuse schossen dicht über der Wasseroberfläche dahin und taten sich an den Mücken gütlich. Über den Bergen im Süden gingen die ersten der zahllosen Sterne des Milchbaums auf.
    »Hast du meine Briefe erhalten?«, fragte Tascha.
    Hercól nickte. »Ich kann deiner Entscheidung nur zustimmen, Tascha. Das Lorg ist ein Schandmal. Und natürlich freue ich mich auch, dich wiederzusehen. Was hast du da in der Hand?«
    Tascha reichte ihm das Buch. Die Lederhülle war ein wenig schmutzig geworden. »Nur ein altes Händlers Polylex. Die Mutter Prohibitor hat es mir vorhin geschenkt. Und sie hat mir eine seltsame Geschichte daraus erzählt, von einem Mädchen namens Erithusmé und ihrem Nilstein.«
    »Sie hat mit dir über den Nilstein gesprochen!«, rief Hercól erregt. »Ich möchte wetten, dass du darüber kein Wort im Polylex finden wirst.«
    »Die Mutter Prohibitor hat etwas ganz anderes gesagt«, widersprach Tascha. »Aber keine Sorge, ich weiß, dass man dem Buch nicht trauen kann. Und das hier ist noch dazu die dreizehnte Ausgabe, also vollkommen veraltet.«
    Hercóls Hand erstarrte. »Du meinst natürlich die vierzehnte Ausgabe. Oder die zwölfte?«
    Tascha schüttelte den Kopf. »Die dreizehnte. Ich habe die Titelseite gesehen, bevor die Mutter Prohibitor sie heraustrennte. Ich habe keine Ahnung, warum sie das getan hat – sie sagte, es sei eines der kostbarsten Bücher in der ganzen Schule.«
    »Das kostbarste überhaupt, würde ich meinen. Und das gefährlichste. Steck es lieber wieder weg.« Er gab es ihr zurück.
    Sie gingen weiter, Hercól runzelte leicht die Stirn. Endlich ergriff er wieder das Wort.
    »Du hast natürlich Recht. Ein Polylex ist gewöhnlich ein Sammelsurium aus Werken von bahnbrechenden Forschern und von Scharlatanen, von Genies und von Betrügern, alle zusammen in einen einzigen Band gepackt. In der neuesten Ausgabe wird zum Beispiel allen Ernstes behauptet, Tholjassaner könnten von tholjassanischen Stachelrochen nicht verletzt werden. Dabei ist das durchaus möglich, das kannst du mir glauben.«
    »Das dreizehnte Polylex ist allerdings ein ganz anderer Fall. Jedes Buch wird von der Gilde der Ozeanfahrer geschrieben, einer uralten Vereinigung von Seeleuten und Händlern hier in Etherhorde. Der Erhabene Kaiser ist Ehrenvorsitzender und muss vor dem Verkauf jeder neuen Ausgabe seine Einwilligung geben. Bis vor hundert Jahren nahm niemand das Buch ernst, doch dann wurde das dreizehnte Polylex geschrieben. Der Verfasser war ein Mann namens Pazel Doldur. Er war der glänzendste Historiker seiner Zeit – und der Erste in seiner Familie, der jemals eine Schule besuchte. Es waren arme Leute: Der Vater und der älteste Bruder wurden Soldaten, weil man in Uniform nicht verhungerte. Beide fielen bei Feldzügen ins Gebirge. Danach schickte die trauernde Mutter den jungen Doldur – angeblich mit dem ›Gold, das der Kaiser Witwen und Müttern bezahlt‹ –

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