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Winslow, Don

Winslow, Don

Titel: Winslow, Don Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tage der Toten
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Tíos Genie. Er weiß, dass ein Mensch,
der stark genug ist, das Böse ins Rollen zu bringen, nicht stark genug sein
muss, es zu stoppen. Dass es nicht leicht ist, sich des Bösen zu erwehren, dass
es aber die schwerste Sache der Welt ist, sich dem Bösen entgegenzustellen.
    Sich einem
Tsunami entgegenzuwerfen.
    Denn genau
darum geht es jetzt, weiß Adán, während
sich seine Gedanken überschlagen. Wenn ich den Lauf der Dinge jetzt aufhalte,
gebe ich mir vor den Orejuelas eine Blöße
- zeige ich eine Schwäche, die tödliche Folgen haben wird. Wenn zwischen mir
und Fabián auch nur die geringste Kluft
aufbricht, bedeutet das unseren sicheren Untergang.
    Das ist Tíos Genie. Er manövriert mich genau an diesen Punkt, in eine Situation, in
der ich so gut wie keine Wahl habe.
    »Ich will
Mama!«, schreit Claudia.
    »Pst«,
flüstert Fabián. »Ich
bringe dich zu ihr.«
    Fabián schaut auf Adán. Er wartet
auf ein Signal.
    Und Adán weiß, dass er das Signal geben wird.
    Weil ich
eine Familie zu schützen habe, denkt Adán. Und ich
habe keine Wahl. Die Familie von Méndez oder meine
Familie.
    Wäre Parada hier, würde er das anders ausdrücken. Er würde sagen, in der
Abwesenheit von Gott gibt es nur Natur, und die Gesetze der Natur sind grausam.
Die erste Handlung der Sieger ist es, die Brut der Verlierer zu vernichten.
Ohne Gott gibt es kein anderes Gesetz. Nur das Gesetz des Überlebens.
    Nein,
denkt Adán. Gott ist
nicht hier.
    Er nickt.
    Fabián packt das Mädchen und wirft es übers Geländer. Ihre Haare flattern wie
hilflose Flügel, und sie verschwindet in der Tiefe, während Fabián den kleinen Jungen mit lockerem Schwung hinterherwirft.
    Adán zwingt sich zum Hinsehen.
    Die Kinder
fallen zweihundert Meter tief, bevor sie auf die Felsen aufschlagen.
    Dann
schaut er die Orejuela-Brüder an, deren Gesichter vor Entsetzen kalkweiß sind.
Gilbertos Hand zittert, als er den Koffer schließt, beim Griff packt und mit
unsicherem Schritt davongeht. Zurück zum Auto.
    Während
der Rio Magdalena die zwei Kinderleichen mit sich nimmt und das Blut.
     
    9
Tage der Toten
     
    Befreit mich niemand von diesem
lästigen Priester?
    Mordbefehl Heinrichs II. gegen den
Erzbischof von Canterbury (1170)
     
    San Diego
     
    1994
     
    Heute ist Totentag in Mexiko. Ein
großer Feiertag.
    Er geht
zurück auf die Zeit der Azteken und feiert die Göttin Mictecacihuatl, die
»Herrin des Todes«, aber die Spanier haben für Ordnung gesorgt und den Feiertag
vom Mittsommer auf den Herbst verlegt, damit er mit Allerheiligen und
Allerseelen zusammenfällt. Klar, warum nicht, denkt Keller. Aber die Dominikaner
können machen, was sie wollen - gefeiert wird la muerte.
    Die
Mexikaner finden nichts dabei, vom Tod zu reden. Sie haben jede Menge Namen
dafür: Die Herzensdame, Die Knochige, Die Magere oder schlicht la Muerte. Sie weichen dem Tod nicht aus. Sie
sind ihm innig verbunden. Ihre Toten sind ihnen immer nahe. Und am Totentag
besuchen die Lebenden die Toten. Sie kochen etwas besonders Gutes, gehen auf
den Friedhof und genießen ihre Mahlzeit mit den lieben Verstorbenen.
    Na
wunderbar, denkt Keller. Ich möchte mit meiner lebenden Familie eine Mahlzeit genießen. Sie wohnen
in derselben Stadt wie ich, atmen dieselbe Luft wie ich, und doch sind sie
unendlich weit entfernt.
    Die Scheidungspapiere
hat er unterschrieben, als er von dem Mord an Pilar und ihren beiden Kindern
erfuhr. War es die Einsicht ins Unvermeidliche, fragt er sich, oder eine Form
der Buße? Er weiß, dass er mitschuldig ist. Er hat diesen grausamen Feldzug in
Gang gesetzt, er hat Tío eingeflüstert,
hinter der imaginären Quelle Chupar habe Gúero
gesteckt. Als ihm über Geheimdienstkanäle das Gerücht zu Ohren kam, die
Barreras hätten Pilar enthauptet
und ihre Kinder in Kolumbien von einer Brücke geworfen, griff er endlich zum
Stift und unterzeichnete die Papiere, die seit Monaten auf seinem Schreibtisch
lagen.
    Er
übertrug Althie das volle Sorgerecht für die Kinder.
    »Danke,
Art«, hat sie gesagt. »Woher der plötzliche Sinneswandel?«
    Meine
Buße.
    Auch ich
verliere zwei Kinder.
    Natürlich
hat er sie nicht verloren. Er bekommt sie jedes zweite Wochenende und für
einen Monat im Sommer. Er fährt mit Cassie zum Volleyball und mit Michael zum
Baseball. Er geht zu allen Schulversammlungen, Theatervorführungen, Ballettdarbietungen,
Elternabenden.
    Aber es
hat etwas Forciertes. Familie funktioniert nicht zu festgelegten Zeiten, und
ihm fehlen die vielen kleinen

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