Winslow, Don
des
Irrsinns. .
Eines Morgens blieb das Frühstück aus - sie fragte danach, und die Frau
behauptete verdutzt, sie hätte es gebracht. Aber das stimmt nicht, ich weiß es
- oder doch? Dann gab es zweimal Mittagessen, direkt hintereinander, dann
wieder Schlaf und wieder Tuinol.
Jetzt läuft sie draußen herum. Die Türen sind nicht verschlossen, niemand
hält sie auf. Vor ihr liegt das Meer, hinter ihr die Wüste. Wenn sie zu Fuß
flieht, verdurstet oder erfriert sie.
Sie geht hinunter ans Meer und planscht mit den Füßen im Wasser.
Das Wasser ist warm und fühlt sich gut an. Die Sonne geht hinter ihr
unter.
Adán steht am
Fenster seines Zimmers in dem großen Haus weiter oben und beobachtet sie.
Er ist in seinem Zimmer gefangen, rund um die Uhr bewacht von Sicarios, die Raúl unterstellt
sind. Sie stehen vor seiner Tür, bis die Ablösung kommt, und Adán schätzt, dass
es mindestens zwanzig Leute sind, die ihn bewachen.
Er steht am Fenster und sieht sie im Wasser waten. Sie trägt ein helles
Leinenkleid und einen breitkrempigen Hut, um sich vor der Sonne zu schützen.
Ihr loses Haar bedeckt die bloßen Schultern.
Warst du's?
Hast du mich verraten?
Nein, sagt er sich. Diesen Gedanken könnte ich nicht ertragen.
Raúl ist von ihrem
Verrat überzeugt, obwohl die Verhöre nichts bringen. Es sind sanfte Verhöre,
hat Raúl ihm versichert, ihr wird kein Haar gekrümmt, geschweige denn weh getan.
Darauf hat Adán bestanden. Eine Schramme, ein Schmerzensschrei, und ich bringe dich um,
auf die eine oder andere Art, ob du nun mein Bruder bist oder nicht.
Und wenn sie es war?, hat Raúl gefragt.
Dann, denkt Adán, während sie sich am Ufer auf einen Stein setzt, dann ist es etwas anderes.
Etwas ganz anderes.
Er hat sich mit Raúl geeinigt. Wenn sie keine Verräterin ist, setzt Raul ihn wieder in seine
Rolle als patrón ein. So ist es verabredet. Aber die Erfahrung sagt ihm, dass keiner, der
die Macht hat, sie zurückgibt.
Nicht freiwillig jedenfalls.
Und vielleicht ist das gar nicht so schlecht, denkt er. Soll sich Raúl ums Geschäft
kümmern, er lässt sich auszahlen und setzt sich mit Nora zur Ruhe. Sie wollte
doch immer nach Paris. Warum nicht?
Und die andere Seite der Abmachung? Stellt sich heraus, dass Nora eine
Verräterin ist, aus welchen Gründen auch immer, dann bleibt Raúl der Boss, und
Nora ...
Daran will er nicht mal denken.
Das Beispiel Pilar Talavera steht ihm lebhaft vor Augen.
Wenn es so weit kommt, erledige ich das selbst, sagt er sich. Komisch,
dass man eine Frau auch dann noch liebt, wenn sie einen verrät. Ich gehe mit
ihr hinunter ans Ufer, warte mit ihr, bis die letzten Sonnenstrahlen
verblassen.
Und dann: kurz und schmerzlos.
Wenn Gloria nicht wäre, würde ich ihr in den Tod folgen.
Kinder fesseln uns ans Leben, nicht wahr?
Besonders dieses Kind, so zerbrechlich und hilfsbedürftig.
Und sie muss sich fürchterliche Sorgen machen, denkt er. Die Zeitungen von
San Diego sind sicher voll von den Vorgängen in Tijuana, und selbst wenn Lucia
diese Nachrichten von ihr fernhält, wird sich Gloria ängstigen, bis sie von
mir hört.
Er schaut noch eine Weile zu Nora hinunter, dann löst er sich vom Fenster
und klopft an die Tür.
Der Wachmann öffnet ihm.
»Bring mir ein Handy«, sagt Adán. »Raul hat gesagt -«
»Mich interessiert nicht, was Raúl gesagt hat«, fährt er ihn an. »Ich bin immer noch el patrón, und wenn ich
dir sage, du sollst mir ein Handy bringen, dann bringst du mir ein Handy.«
Der Wachmann gehorcht.
»Boss?«
»Ja?«
»Es tut sich was.«
Shag reicht ihm den Kopfhörer, und er hört die Stimme von Lucía Barrera. Adán?
Wie geht's
Gloria? Sie macht sich Sorgen. Ich will mit ihr reden. Wo bist du?
Kann ich mit
ihr reden?
Eine lange Pause, dann Glorias Stimme.
Papa?
Wir geht's dir,
meine Kleine?
Ich hab Angst
um dich.
Mir geht's gut.
Mach dir keine Sorgen.
Keller hört das Mädchen weinen.
Wo bist du? In
der Zeitung stand -
Die Zeitungen
lügen. Mir geht's gut.
Kann ich dich
besuchen?
Jetzt noch
nicht, aber bald. Hör zu, mein Kleines, sag Mama, sie soll dir einen dicken
Kuss von mir geben. Okay? Okay.
Mach's gut,
Kleines. Ich hab dich lieb.
Ich hab dich
lieb, Papa.
Keller sieht Shag an.
»Es wird ein Weilchen dauern, Boss.«
Es dauert sechzig Minuten, bis die Daten von der NSA analysiert sind,
aber es sind gefühlte fünf Stunden. Dann kommt der Bericht. Der Anruf stammt
von einem Handy (das wussten wir schon, denkt Keller),
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