Winslow, Don
»Nach San Diego, noch heute
Abend. Wir wohnen eine Weile bei meinen Eltern.«
»Wovon redest du überhaupt?«
»Art, ich habe Angst«, sagt sie und erzählt ihm von der Passkontrolle und wie ihr zumute war,
als sie hörte, dass sein Auto zerschossen und er aufs Revier der Federales
mitgenommen wurde. »So eine Angst hatte ich noch nie, Art. Ich will raus aus
Mexiko.«
»Deine Angst ist unbegründet.«
Sie blickt ihn an, als wäre er nicht bei Trost. »Die haben dein Auto
kaputtgeschossen, Art.«
»Sie wussten, dass ich nicht drinsaß.«
»Und wenn sie das Haus in die Luft sprengen, wissen sie dann, dass ich und
die Kinder nicht da sind?«
»Den Familien tun sie nichts.«
»Ach ja? Ist das eine Art Gesetz?«
»Ja, eine Art Gesetz«, sagt er. »Jedenfalls bin ich es, hinter dem sie her
sind. Eine persönliche Geschichte.«
»Eine persönliche Geschichte? Was
meinst du damit?«
Als sie nach etwa dreißig Sekunden noch immer keine Antwort hat,
wiederholt sie: »Art, was meinst du damit?«
Er schiebt sie in den Sessel und erzählt ihr von seiner alten
Bekanntschaft mit Tío und Adán Barrera. Erzählt ihr von dem Hinterhalt in Badiraguato, der Erschießung
von sechs Gefangenen und seinem langen Schweigen dazu. Dass sein Schweigen Tío geholfen hat,
die Federación aufzubauen, die nun die amerikanischen Großstädte mit Crack überschwemmt,
und dass es jetzt an ihm ist, etwas dagegen zu unternehmen.
Sie schaut ihn ungläubig an. »Das lastet alles auf deinen Schultern?«
Er nickt.
»Dann musst du ja unglaubliche Kräfte haben, Art«, sagt sie. »Was hättest
du denn damals machen sollen? Es war nicht deine Schuld. Du konntest nicht wissen,
was Barrera vorhatte.«
»Halb hab ich es gewusst«, sagt Keller. »Ich wollte es nur nicht
wahrhaben.«
»Und jetzt glaubst du, du musst das wiedergutmachen? Indem du Barrera zur
Strecke bringst? Selbst wenn du dafür mit dem Leben bezahlst?«
»Etwa so.«
Sie steht auf und geht ins Bad. Ihm erscheint es wie eine Ewigkeit, aber
es sind nur ein paar Minuten, bis sie wieder herauskommt, seinen Koffer aus
der Kammer holt und aufs Bett wirft. »Fahr mit uns.«
»Das kann ich nicht.«
»Dein Kreuzzug
ist dir wichtiger als deine Familie?«
»Nichts ist mir
wichtiger als meine Familie.«
»Dann beweise
es«, sagt sie. »Komm mit.«
»Althea -«
»Wenn du hierbleiben und High Noon spielen willst, na gut. Aber wenn du deine Familie zusammenhalten willst,
dann fang an zu packen. Sachen für ein paar Tage. Tim Taylor hat versprochen,
dass alles andere eingepackt und nachgeschickt wird.«
»Du hast mit Tim Taylor gesprochen?«
»Er hat hier angerufen«, sagt sie. »Und das war immerhin mehr, als du
getan hast.«
»Ich war zur Vernehmung!«
»Du meinst also, da kann ich ja beruhigt sein?«
»Verdammt noch mal, Althie! Was willst du überhaupt?«
»Ich will, dass du mitkommst.«
»Ich kann nicht!«
Er sitzt auf der Bettkante, neben sich den leeren Koffer wie zum Beweis,
dass er seine Familie nicht liebt. Er liebt seine Familie - tief und innig -,
aber er kann trotzdem nicht tun, was sie von ihm erwartet.
Warum nicht?, fragt er sich. Hat Althea recht? Hänge ich an diesem
Kreuzzug mehr als an meiner Familie?
»Verstehst du denn nicht?«, sagt sie. »Es geht nicht um diese Barreras. Es
geht um dich. Dass du nicht fähig bist, dir selbst zu verzeihen. Es sind nicht
sie, die du unbedingt bestrafen willst. Das bist du selbst!«
»Besten Dank für die Küchentherapie.«
»Fick dich selbst, Art.« Sie lässt ihre Kofferschlösser zuschnappen. »Ich
hab ein Taxi gerufen.«
»Ich bringe euch wenigstens zum Flughafen.«
»Nur wenn du mit ins Flugzeug steigst. So kann ich das den Kindern nicht
zumuten.«
Er nimmt ihre Tasche und trägt sie nach unten. Wartet dort mit der Tasche
in der Hand, während sie sich von Josefina verabschiedet, unter Tränen und Umarmungen. Er
hockt sich neben Cassie und Michael und nimmt sie in die Arme. Michael versteht
noch nicht, was passiert, aber Keller spürt Cassies warme Tränen auf der Wange.
»Warum kommst du nicht mit, Daddy?«, fragt sie.
»Ich hab hier noch zu tun«, sagt Keller. »Es dauert nicht lange, dann
komme ich nach.«
»Aber ich will, dass du mitkommst!«
»Bei Grandpa und Grandma werdet ihr viel Spaß haben«, sagt er.
Draußen hupt es, er trägt das Gepäck hinaus.
Auf der Straße herrscht Hochbetrieb, es findet gerade eine posada statt, verkleidete Kinder ziehen vorbei, manche
tragen mit Bändern und Blumen
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