Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
einem vollen Aschenbecher aus. »Also, Gus, dann lassen Sie mal hören. Was ist drüben in Europa los? Wie schätzen Sie die Lage ein?«
»Meiner Meinung nach sind Russland und das Deutsche Reich noch immer Todfeinde«, begann der Senator.
»Das dachten wir alle. Wieso haben sie dann diesen Nichtangriffspakt geschlossen?«
»Weil er beiden kurzfristig zugutekommt. Stalin braucht mehr Zeit. Er will die Rote Armee verstärken, damit er im Fall des Falles die Deutschen besiegen kann.«
»Und Hitler?«
»Ich glaube, er wird bald militärisch gegen Polen losschlagen. Die deutsche Presse überschlägt sich mit absurden Schauergeschichten darüber, wie Polen angeblich seine deutschstämmigen Bürger misshandelt. Hitler stachelt den Hass nicht ohne Absicht an. Und was er auch vorhat – er will die Sowjets aus dem Weg haben. Deshalb der Pakt mit Stalin.«
Roosevelt nickte. »Hull sagt so ziemlich das Gleiche.« Cordell Hull war der Außenminister. »Er kann aber nicht einschätzen, was als Nächstes geschieht. Was meinen Sie, Gus? Wird Stalin Hitler wirklich alles durchgehen lassen?«
»Ich nehme an, dass sie Polen in den nächsten Wochen zwischen sich aufteilen.«
»Und was dann?«
»Vor wenigen Stunden hat Großbritannien einen Beistandspakt mit Polen geschlossen, der beide Seiten verpflichtet, einander im Fall eines Angriffs zu Hilfe zu kommen.«
»Was könnten die Briten unternehmen?«
»Nichts, Sir. Die britischen Streitkräfte können die Deutschen nicht darin hindern, Polen zu überrennen.«
»Was sollen wir Ihrer Meinung nach tun, Gus?«
Woody erkannte sofort, dass dies die große Chance seines Vaters war. Für ein paar Minuten hatte er die ungeteilte Aufmerksamkeitdes Präsidenten – eine seltene Gelegenheit, etwas zu bewegen. Woody drückte ihm verstohlen die Daumen.
Gus Dewar beugte sich vor. »Wir möchten nicht, dass unsere Söhne in den Krieg ziehen müssen, so wie wir es damals mussten.« Roosevelt hatte vier Söhne zwischen zwanzig und vierzig. Woody begriff mit einem Mal, weshalb sein Vater ihn mitgenommen hatte: Er sollte den Präsidenten an seine eigenen Söhne erinnern.
Leise fuhr Gus fort: »Wir können nicht schon wieder junge Amerikaner nach Europa schicken, damit sie dort massakriert werden. Die Welt braucht eine Polizeitruppe.«
»Was haben Sie im Sinn?«, fragte Roosevelt.
»Der Völkerbund ist keineswegs ein solcher Fehlschlag, wie es bei uns oft hingestellt wird. In den Zwanzigerjahren hat er Grenzstreitigkeiten zwischen Finnland und Schweden beigelegt, auch zwischen der Türkei und dem Irak.« Gus zählte an den Fingern ab. »Er hat Griechenland und Jugoslawien davon abgehalten, in Albanien einzufallen. Er hat die Griechen überzeugt, sich aus Bulgarien zurückzuziehen. Er hat eine Friedenstruppe abgestellt, die Kolumbien und Peru an Feindseligkeiten hindern sollte.«
»Das ist ja alles richtig«, erwiderte Roosevelt, »aber in den Dreißigern …«
»Der Völkerbund war nicht stark genug, um der faschistischen Aggression Herr zu werden, Sir. Das kann kaum überraschen, solange ein Schwergewicht wie die USA ihm nicht angehört. Wir brauchen einen neuen, von uns geführten Völkerbund, der mit Entschlossenheit auftritt und mehr Gewicht in die Waagschale werfen kann.« Gus verstummte kurz, um seine Worte wirken zu lassen. »Mr. President, noch ist es nicht zu spät, den Traum von einer friedlichen Welt zu verwirklichen.«
Woody hielt den Atem an. Roosevelt nickte, aber das besagte bei ihm nicht viel. Er war ein Mann, der nur selten offen widersprach. Er hasste die Konfrontation. Man müsse vorsichtig sein, hatte Woody seinen Vater sagen hören; man dürfe Roosevelts Schweigen nicht als Zustimmung werten.
Woody saß still neben seinem Vater. Er wagte es nicht einmal, ihn anzublicken, doch er spürte seine Anspannung.
Schließlich sagte der Präsident: »Ich glaube, Sie haben recht.«
Woody traute seinen Ohren nicht. Bedeutete das, Roosevelt warmit dem Plan eines neuen, stärkeren Völkerbunds einverstanden? Woody blickte seinen Vater an: Der normalerweise unerschütterliche Gus Dewar konnte sein Erstaunen nicht verbergen.
Er setzte rasch nach, um den möglichen Erfolg zu festigen. »Darf ich dann vorschlagen, Mr. President, dass Cordell Hull und ich eine Vorlage erarbeiten, über die Sie entscheiden?«
»Hull hat eine Menge zu tun. Reden Sie mit Welles.«
Sumner Welles war Stellvertretender Außenminister, ein ehrgeiziger und von sich eingenommener Mann. Woody wusste, dass
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