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Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman

Titel: Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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abfuhren, sah er etwas, das ein ausgewachsener Aufstand zu sein schien. Offenbar konnten die Leute nicht ins Bahnhofsgebäude, geschweige denn in die Züge. Sichtlich wohlhabende, gut gekleidete Männer und Frauen versuchten mit ihren Kindern, Haustieren und dem Gepäck den Haupteingang zu erreichen. Wolodja sah schockiert, wie einige sich schamlos prügelten, schubsten und traten. Eine Handvoll Polizisten schaute hilflos zu. Es hätte einer Kompanie Soldaten bedurft, hier wieder Ordnung zu schaffen.
    Die Fahrer beim Militär waren für gewöhnlich wortkarg, dochWolodjas Chauffeur ließ sich zu einem Kommentar hinreißen. »Diese verdammten Feiglinge«, sagte er. »Sie laufen einfach weg und lassen uns allein gegen die Nazis kämpfen. Schauen Sie sich die Herrschaften doch nur mal an in ihren Pelzmänteln!«
    Wolodja war überrascht. Kritik an der sowjetischen Elite war gefährlich. Wer wegen solcher Bemerkungen denunziert wurde, verbrachte ein, zwei Wochen in den Folterkellern der Lubjanka, dem Hauptquartier des NKWD , und war nicht selten für den Rest des Lebens gezeichnet.
    Wolodja hatte das beunruhigende Gefühl, dass die rigide Hierarchie und die Unterwürfigkeit, die die Sowjetunion zusammenhielten, schwächer wurden und früher oder später in sich zusamenfallen würden.
    Sie fanden die Straßensperre, an der Zoja nach Aussage des Hausverwalters arbeitete. Wolodja stieg aus, sagte seinem Fahrer, er solle warten, und betrachtete die Barrikade.
    Die Straße war mit Panzersperren gespickt, sogenannten »Tschechenigeln«. Ein Igel bestand aus drei Stahlstreben, meist Gleisstücke, gut einen Meter lang, die in der Mitte zusammengeschweißt waren und so einen Stern bildeten, der auf drei Füßen stand. Fuhr ein Kettenfahrzeug darüber, war die Kette Schrott.
    Hinter dem Igelfeld wurde mit Spitzhacken und Schaufeln ein Panzergraben ausgehoben; dahinter wuchs eine Sandsackmauer mit Schießscharten für die Verteidiger heran. Nur ein schmaler Zickzackpfad war frei von Hindernissen, sodass der Verkehr weiterfließen konnte, bis die Deutschen kamen.
    Es waren fast ausschließlich Frauen, die hier schufteten. Wolodja entdeckte Zoja hinter einem Erdwall, wo sie Sand in Säcke schaufelte. Eine Minute lang beobachtete er sie aus der Ferne. Sie trug einen schmutzigen Mantel, Wollhandschuhe und Filzstiefel. Das blonde Haar hatte sie zurückgebunden und mit einem Tuch bedeckt. Ihr Gesicht war schlammverschmiert, aber sie sah noch immer begehrenswert aus. Sie arbeitete effektiv und schwang die Schaufel in stetem Rhythmus. Erst als der Vorarbeiter eine Trillerpfeife blies, kam die Arbeit zum Erliegen.
    Nachdem sie einander begrüßt hatten, setzte Zoja sich auf einen Stapel Sandsäcke und holte ein kleines, in Zeitungspapier gewickeltes Päckchen aus ihrer Tasche. Wolodja setzte sich nebensie und sagte: »Du könntest dich von der Arbeit hier befreien lassen.«
    »Das ist meine Stadt«, erwiderte sie. »Warum sollte ich da nicht bei ihrer Verteidigung helfen?«
    »Dann willst du nicht nach Osten fliehen?«
    »Niemals. Mich werden die verdammten Nazis nicht vertreiben!«
    Ihre Leidenschaft überraschte Wolodja. »Viele Leute sehen das anders.«
    »Ich weiß. Deshalb dachte ich, du wärst auch schon lange weg.«
    Wolodja lachte. »Du hast ja eine schöne Meinung von mir! Hältst du mich etwa für einen dieser selbstsüchtigen Funktionäre?«
    Zoja zuckte mit den Schultern. »Wenn jemand sich retten kann, tut er das meist auch.«
    »Da irrst du dich. Meine ganze Familie ist noch in Moskau.«
    »Vielleicht habe ich dich falsch eingeschätzt. Willst du was zu essen?« Sie öffnete ihr Päckchen, und vier kleine, in Kohlblätter gewickelte Pasteten kamen zum Vorschein. »Probier mal.«
    Wolodja nahm sich eine Pastete und biss hinein. Besonders schmackhaft war sie nicht. »Was ist das?«, fragte er.
    »Kartoffelschalen. Die bekommt man eimerweise und ganz umsonst an jeder Hintertür einer Parteikantine oder Offiziersmesse. Dann zerkleinert man sie, kocht sie, bis sie weich sind, mischt sie mit ein wenig Mehl und Milch, gibt Salz hinzu, wenn man welches hat, und backt sie in Schweinefett.«
    »Ich wusste gar nicht, dass du so schlecht dran bist«, sagte Wolodja verlegen. »Komm doch zum Essen mal wieder zu uns. Du bist jederzeit willkommen.«
    »Danke. Und jetzt sag, was führt dich her?«
    »Eine konkrete Frage.«
    »Und wie lautet sie?«
    »Was bedeutet Separation von Isotopen durch Diffusion?«
    Zoja starrte ihn an. »O Gott … Was

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