Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
frühmorgens sturzbetrunken zurück; doch im Haus hielt eine Flasche Wodka einen Monat oder länger.
Wolodja ging in die Küche. Seine Eltern frühstückten gerade. Es gab Sardinen aus der Dose, Schwarzbrot und Tee. »Vater«, sagte Wolodja, »warum haben wir einen Wodkavorrat in der Abstellkammer, der für die nächsten sechs Jahre reicht?«
Sein Vater musterte Wolodja überrascht. Dann schauten die beiden Katherina an. Sie lief rot an, stand auf, schaltete das Radio ein und drehte die Lautstärke hoch. Fürchtete sie, dass die Wohnung abgehört wurde?
Katherina sagte mit gedämpfter, zorniger Stimme: »Was wollt ihr denn als Geld benutzen, wenn die Deutschen kommen? Dann gehören wir nämlich nicht mehr zu den Privilegierten. Wenn wir uns dann nichts auf dem Schwarzmarkt kaufen können, verhungern wir. Ich bin zu alt, um meinen Körper zu verkaufen, und Wodka wird dann mehr wert sein als Gold.«
Wolodja war schockiert, seine Mutter so reden zu hören.
»Die Deutschen werden nicht bis hierhin kommen«, sagte Grigori mit fester Stimme.
Wolodja war sich da nicht so sicher. Der Feind rückte immer weiter vor und marschierte aus zwei Richtungen auf Moskau zu.Im Norden hatten sie bereits Kalinin erreicht und im Süden Kaluga, und beide Städte waren nur gut hundertfünfzig Kilometer entfernt. Die Verluste der Sowjets waren unvorstellbar. Vor einem Monat hatten noch achthunderttausend Rotarmisten die Front gehalten; jetzt waren es nur noch neunzigtausend – jedenfalls den Schätzungen nach, die über Wolodjas Schreibtisch gingen.
»Wer soll die Deutschen denn aufhalten?«, fragte er seinen Vater.
»Ihre Nachschublinien sind überdehnt, und sie sind nicht auf den Winter vorbereitet. Sobald sie schwächer werden, starten wir unseren Gegenangriff.«
»Und warum wird dann die Regierung evakuiert?«
In Moskau war man dabei, Regierung und Verwaltung zweitausend Kilometer nach Osten zu verlegen, nach Kuibyschew. Der Anblick zahlloser Aktenkisten, die in einem nicht abreißenden Strom auf Lastwagen geladen wurden, machte die Bürger der Hauptstadt zunehmend nervös.
»Das ist nur eine Vorsichtsmaßnahme«, erklärte Grigori. »Stalin ist noch hier.«
»Es gibt eine Lösung«, argumentierte Wolodja. »Wir haben noch Hunderttausende von Soldaten in Sibirien. Die müssten wir als Verstärkung heranführen.«
Grigori schüttelte den Kopf. »Dann wäre der Osten nicht stark genug verteidigt. Japan stellt noch immer eine Bedrohung dar.«
»Japan wird uns nicht angreifen, das wissen wir.« Wolodja schaute zu seiner Mutter. Ihm war klar, dass sie in ihrem Beisein nicht über Staatsgeheimnisse diskutieren sollten, aber das war ihm egal. »Unsere Quelle in Tokio, die uns vor dem deutschen Angriff gewarnt hat, hat uns versichert, dass die Japaner nicht in den Kampf eingreifen werden. Wir werden diesem Mann doch nicht schon wieder misstrauen, oder?«
»Er könnte sich irren. Es ist schwierig, nachrichtendienstliche Informationen zu verifizieren.«
»Wir haben aber keine andere Wahl«, erwiderte Wolodja gereizt. »Wir haben zwölf Armeen in Reserve – eine Million Mann! Wenn wir die jetzt zum Einsatz bringen, wird Moskau vielleicht überleben. Wenn nicht, sind wir am Ende.«
Grigori schaute besorgt drein. »Sprich nicht so. Nicht einmal in deinen eigenen vier Wänden.«
»Warum nicht? Wenn es so weitergeht, bin ich morgen ohnehin tot.«
Seine Mutter brach in Tränen aus.
»Jetzt sieh dir an, was du getan hast!«, schimpfte Grigori.
Wolodja verließ die Küche und zog seine Stiefel an. Ihn plagte das schlechte Gewissen, weil er seinen Vater angeschrien und seine Mutter zum Weinen gebracht hatte. Aber er war verzweifelt. Dass seine Mutter einen Wodkavorrat anlegte, den sie im Fall einer deutschen Besatzung als Währung benutzen wollte, hatte Wolodja gezwungen, sich der Realität zu stellen. Wir werden verlieren, dachte er voller Bitterkeit. Deutschland wird die Sowjetunion besiegen. Das Ende der Russischen Revolution steht bevor.
Er zog Mantel und Hut an, ging in die Küche zurück, küsste seine Mutter und umarmte seinen Vater.
»Wofür ist das denn?«, fragte Grigori. »Du gehst doch bloß zur Arbeit.«
»Nur für den Fall, dass wir uns nicht mehr wiedersehen«, antwortete Wolodja und ging hinaus.
Als er die Brücke ins Stadtzentrum überquerte, sah er, dass der gesamte öffentliche Nahverkehr zum Erliegen gekommen war. Die Metro war geschlossen, und nirgends waren Busse oder Straßenbahnen zu sehen.
Offenbar gab
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