Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
hervor.
Walter warf ihm einen eisigen Blick zu und ging.
Lloyd, Robert und Jörg wurden aus dem Restaurant gezerrt und auf die Ladefläche eines Lastwagens geworfen. Man zwang sie, sich auf den Boden zu legen, während Braunhemden sich auf die Bänke setzten und sie bewachten. Der Lastwagen fuhr los. Beim Ruckeln und Schaukeln des Fahrzeugs musste Lloyd erkennen, dass Handschellen sehr schmerzhaft waren. Er hatte ständig das Gefühl, als würde ihm die Schulter ausgekugelt.
Zum Glück war die Fahrt nur kurz. Die drei Gefangenen wurden vom Lkw gezerrt und in das Gebäude gescheucht. Es war dunkel, sodass Lloyd nur wenig sehen konnte. An einem Schreibtisch notierte man seinen Namen in ein Buch und nahm ihm den Pass ab. Robert verlor seine goldene Krawattennadel und die Uhrkette. Schließlich löste man ihre Handschellen, und sie wurden in einen schummrig beleuchteten Raum mit vergitterten Fenstern gestoßen, in dem sich bereits gut vierzig weitere Gefangene aufhielten.
Lloyd hatte Schmerzen am ganzen Körper. Sein Gesicht war grün und blau, er hatte rasende Kopfschmerzen, und seine Brust tat weh – vermutlich war eine Rippe gebrochen. Er sehnte sich nach einem Aspirin, einer Tasse Tee und einem Kopfkissen. Aber er hatte das Gefühl, dass es Stunden dauern würde, bis er überhaupt etwas bekam.
Die drei Männer setzten sich neben der Tür auf den Boden. Lloyd hielt den Kopf in den Händen, während Robert und Jörg darüber sprachen, wie lange es wohl dauern würde, bis Hilfe kam. Bestimmt würde Walter einen Anwalt anrufen. Doch die üblichen Regeln waren durch die Reichstagsbrandverordnung außer Kraft gesetzt; von daher genossen sie nicht den üblichen Schutz durch das Gesetz. Aber Walter würde sich auch mit den Botschaften in Verbindung setzen: Politischer Einfluss war jetzt ihre größte Hoffnung. Überdies, vermutete Lloyd, würde seine Mutter versuchen, das britische Außenministerium ans Telefon zu bekommen. Sollte sie durchkommen, würde die Regierung in London bestimmt nicht dazu schweigen, dass man in Berlin einen britischen Schuljungen verhaftet hatte. Aber das alles würde Zeit kosten … mindestens eine Stunde, vielleicht sogar zwei oder drei.
Aber es vergingen vier Stunden, dann fünf, und die Tür öffnete sich nicht.
In zivilisierten Ländern war per Gesetz geregelt, wie lange die Polizei jemanden ohne Haftbefehl in Gewahrsam nehmen konnte und wann er einen Anwalt zu sehen bekam. Nun wurde Lloyd bewusst, dass solche Regeln nicht einfach nur Formalitäten waren. Er könnte ewig hier drin sitzen.
Die anderen Gefangenen waren ausnahmslos politische Häftlinge: Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschafter. Auch ein Priester war darunter.
Die Nacht verging quälend langsam. Keiner der drei machte ein Auge zu. Für Lloyd war an Schlaf nicht zu denken. Das graue Licht der Dämmerung fiel bereits durch die Gitter, als die Tür sich endlich öffnete. Doch es erschienen weder Anwälte noch Diplomaten, sondern zwei Männer in Schürzen, die eine Bahre hereinschoben, auf der ein großer Topf stand. Daraus schaufelten sie einen dünnen Haferbrei in Näpfe. Lloyd aß nichts, trank nur den dünnen Kaffee, der nach Gerste schmeckte.
Er vermutete, dass die britische Botschaft nachts nur von niederrangigen Beamten besetzt war, die kaum Befugnisse hatten. Heute Morgen jedoch, sobald der Botschafter erschienen war, würde man bestimmt etwas unternehmen.
Eine Stunde nach dem Frühstück öffnete sich die Tür erneut, doch diesmal standen dort nur Braunhemden. Sie trieben die Gefangenen hinaus und luden sie auf einen Lastwagen, vierzig bis fünfzig Männer auf einer kleinen Ladefläche, so dicht gedrängt, dass sie stehen mussten. Irgendwie schaffte es Lloyd, nahe bei Robert und Jörg zu bleiben.
Vielleicht wurden sie jetzt zum Gericht gefahren, obwohl Sonntag war. Lloyd hoffte es zumindest. Dort gab es Anwälte, und man würde wenigstens den Anschein eines rechtmäßigen Prozesses wahren. Und er sprach gut genug Deutsch, um die Sachlage erklären zu können. Für alle Fälle übte er seine Aussage schon einmal im Kopf: Er hatte in einem Restaurant mit seiner Mutter zu Abend gegessen und beobachtet, wie jemand die Gäste an der Tür ausgeraubt hatte, und war dann in die darauf folgenden Schlägereien hineingezogen worden. Lloyd stellte sich ein Kreuzverhör vor. Man würde ihn fragen, ob der Mann, den er angegriffen hatte, ein Braunhemd gewesen war, und er würde antworten: »Auf seine Kleidung habe ich
Weitere Kostenlose Bücher