Winter der Welt - Die Jahrhundert-Saga Roman
es erwartet hatte.
Sie hatten nur eines seiner Fotos benutzt – das letzte. Es zeigte den Wachmann, der am Boden lag und von den beiden Arbeitern zusammengetreten wurde. Die Schlagzeile lautete: STREIKENDE METALLER IM AUFRUHR.
»Oh nein!«, rief er.
Ungläubig las er den Artikel. Protestierende hätten versucht, in die Gießerei einzudringen, hieß es, und seien tapfer von den Werkschutzleuten zurückgeschlagen worden, von denen einige leichte Verletzungen erlitten hätten. Das Verhalten der Arbeiter werde vom Bürgermeister, vom Polizeichef und von Lev Peshkov verurteilt. Am Ende des Artikels wurde fast beiläufig Brian Hall als Sprecher der Gewerkschaft zitiert, der die Geschichte abstritt und die Wachleute für die Ausschreitungen verantwortlich machte.
Woody legte seiner Mutter die Zeitung hin. »Ich habe Hoyle erzählt, dass die Wachleute mit der Schlägerei angefangen haben, und ich habe ihm die Fotos gegeben, die das beweisen!«, rief er aufgebracht. »Weshalb druckt er nicht die Wahrheit, sondern das Gegenteil?«
»Weil er konservativ ist.«
»Zeitungen sollen die Wahrheit berichten!« Wütend hob Woody die Stimme. »Sie können doch nicht einfach Lügen erfinden!«
»Doch, können sie.«
»Aber das ist nicht fair!«
»Willkommen in der Wirklichkeit«, entgegnete seine Mutter.
In der Lobby des Hotels Ritz-Carlton in Washington, D.C., begegneten Greg Peshkov und sein Vater Dave Rouzrokh.
Rouzrokh trug einen weißen Anzug und einen Strohhut. Er funkelte die Peshkovs hasserfüllt an. Lev grüßte ihn, doch Rouzrokh wandte sich verächtlich von ihm ab, ohne zu reagieren.
Greg kannte den Grund. Rouzrokh hatte den ganzen Sommer lang Verluste geschrieben, weil seine Kinokette es nicht geschafft hatte, an die Erstaufführungsrechte von Publikumsschlagern zu kommen. Rouzrokh musste ahnen, dass Lev irgendwie dahintersteckte.
Vergangene Woche hatte Lev ihm vier Millionen Dollar für seine Kinos geboten – die Hälfte des ursprünglichen Angebots –, und Rouzrokh hatte erneut abgelehnt.
»Der Preis fällt weiter, Dave«, hatte Lev ihn gewarnt.
Nun sagte Greg: »Ich möchte wissen, was er hier will.«
»Er trifft sich mit Sol Starr. Er will Sol fragen, wieso er ihm keine guten Filme gibt.« Lev wusste offenbar genau Bescheid.
»Und was wird Mr. Starr tun?«
»Ihn hinhalten.«
Greg bewunderte die Fähigkeit seines Vaters, alles zu wissen und auch in einer wechselhaften Lage die Fäden in der Hand zu behalten. Er war den anderen immer eine Nasenlänge voraus.
Sie fuhren im Aufzug hoch. Zum ersten Mal besuchte Greg die Suite im Hotel, die sein Vater auf Dauer gemietet hatte. Seine Mutter war noch nie hier gewesen.
Lev verbrachte viel Zeit in Washington, weil die Behörden sich ständig ins Filmgeschäft einmischten. Männer, die sich als moralische Leitbilder betrachteten, erregten sich sehr über das, was auf der Leinwand zu sehen war, und bedrängten die Regierung, Filme zu zensieren. Lev betrachtete es als Verhandlungssache – er betrachtete das ganze Leben als Verhandlungssache – und bemühte sich ständig, eine offizielle Zensur zu verhindern, indem er sich an einen freiwilligen Kodex hielt, eine Strategie, die Sol Starr und die meisten anderen großen Hollywood-Produzenten unterstützten.
Sie betraten ein ungemein schickes Wohnzimmer – viel schicker als das geräumige Apartment in Buffalo, das Greg und seine Mutter bewohnten und das Greg immer für luxuriös gehalten hatte. Im Zimmer standen Möbel mit spindeldürren Beinen; vor denFenstern hingen prächtige kastanienbraune Samtvorhänge, und es gab ein großes Grammofon.
Mitten im Zimmer saß auf einem gelben Seidensofa die Filmdiva Gladys Angelus.
Für viele war sie die schönste Frau der Welt.
Nun sah Greg, warum das so war. Gladys verströmte Sex aus jeder Pore. Sie war eine einzige Verlockung, von den dunkelblauen, einladenden Augen bis hin zu den langen Beinen, die sie unter dem engen Rock übereinandergeschlagen hatte. Als sie Greg die Hand reichte, lächelten ihre roten Lippen, und ihre runden Brüste bewegten sich betörend unter einem weichen Pullover.
Er zögerte einen Sekundenbruchteil, ehe er ihr die Hand schüttelte, denn es kam ihm wie ein Verrat an seiner Mutter vor. Sie nahm den Namen Gladys Angelus niemals in den Mund – ein sicheres Zeichen dafür, dass sie wusste, was die Leute über Gladys und Lev redeten. Greg hatte das bedrückende Gefühl, sich mit der Feindin seiner Mutter anzufreunden. Wenn Mom davon
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