Winter der Zärtlichkeit
Sie lebten weit verstreut und entfernt in Boston, New York oder San Francisco.
Niemand von der Familie war hier geblieben, außer ihm, Hannah und Tobias. Das machte Doss’ Einsamkeit nur noch größer. Er wünschte sich sehnlichst, dass sie einfach alle zurück nach Hause kämen, wo sie schließlich hingehörten. Aber es war einfacher, wilde Katzen einzufangen als diese Horde.
Beim Blick zurück zum Haus sah er die Laterne im Küchenfenster leuchten. Er lächelte.
Unmittelbar nachdem er das Haus verlassen hatte, musste Hannah die elektrische Lampe ausgeschaltet haben. Sie machte sich ständig Sorgen und war äußerst sparsam, obwohl sie aus einer wohlhabenden Familie kam und in eine noch wohlhabendere Familie eingeheiratet hatte.
Sein Hals schnürte sich zusammen. Natürlich wusste er, dass sie sich verändert hatte, seit er Gabe in dem Kiefernsarg nach Hause gebracht hatte. Andererseits hatten sie sich alle verändert. Gabes Tod hatte ein Loch in die McKettrick- Familie gerissen. Nicht etwa ein kleines, säuberlich abgestepptes Loch - nein, ein großes, ausgefranstes Loch, und gemessen an der Tiefe seiner eigenen Trauer konnte er sich nicht vorstellen, dass es sich jemals wieder schließen würde.
Die Zeit heilt alle Wunden, hatte seine Mutter gesagt, nachdem sie Gabe oben auf dem Hügel begraben hatten, neben Angus und denen, die ihm gefolgt waren. Doch in ihren Augen glänzten Tränen, als sie es sagte. Und sein Vater - der hatte lange am Grab gestanden. So lange, bis Rafe, Kade und Jeb ihn weggeführt hatten.
Bei der Erinnerung stieß Doss einen Seufzer aus. „Gabe“, murmelte er tonlos, „Hannah sagt zwar, ich dürfe so nicht denken, aber ich wünsche mir noch immer, dass ich an deiner Stelle gestorben wäre.“
Er hätte alles für eine Antwort gegeben. Doch wo immer Gabe auch war, er schien mit anderen Dingen beschäftigt zu sein. Vielleicht gab es dort oben im Himmel Fischteiche oder Rinderherden, die zusammengetrieben und zum Markt gebracht werden mussten.
„Pass auf Hannah und meinen Jungen auf“, hatte Gabe ihn damals im Armeekrankenhaus gebeten, nachdem sie erfahren hatten, dass er sterben würde. „Versprich es mir, Doss.“
Doss hatte schwer geschluckt und dann das Versprechen gegeben, das nicht leicht zu halten war. Hannah schien keine Hilfe annehmen zu wollen. Jeden Morgen beim Aufwachen befürchtete er, dass dies der Tag war, an dem sie für immer zurück zu ihrer Familie nach Montana ging.
Als er hörte, wie die Hintertür geöffnet wurde, schreckte Doss aus seinen Gedanken auf. Er zögerte einen Moment, dann steuerte er auf den Stall zu - bemüht, wie ein Mann zu wirken, der ein Ziel hatte.
Hannah holte ihn ein, eingewickelt in einen Schal und mit einer Laterne in der Hand.
„Ich glaube, ich werde wahnsinnig“, platzte sie heraus.
„Das ist die Trauer, Hannah“, erwiderte er schroff. „Das geht vorbei.“
„Das glaubst du genauso wenig wie ich“, entgegnete Hannah. Der Schnee fiel immer heftiger, der Wind war eisig.
Doss wechselte auf die andere Seite, um sie abzuschirmen. „Ich muss es einfach glauben“, erklärte er. „Ich ertrage die Vorstellung nicht, mich für immer so schrecklich zu fühlen.“
„Ich habe die Teekanne weggeräumt“, sagte Hannah. Kleine weiße Wölkchen stiegen von ihren Lippen auf. „Ich weiß, dass ich sie weggeräumt habe. Aber ich muss sie irgendwann wieder herausgestellt haben, ohne dass ich mich daran erinnern kann. Und das macht mir Angst, Doss. Das macht mir wirklich Angst.“
Am Stall nahm Doss ihr die Laterne ab und zog mit der anderen Hand die großen Tore auf. Das war nicht leicht, da der Schnee sich angehäuft hatte, seit er den Pferden, der Milchkuh und diesem verflixten Maultier Seesaw Wasser gegeben hatte. Die Kreatur stammte von dem Maultier seiner Mutter ab, das genauso geheißen hatte. Wer noch daran beteiligt gewesen war, konnte nicht festgestellt werden.
„Vielleicht bist du momentan ein bisschen vergesslich“, mutmaßte Doss, nachdem sie den Stall betreten und die Kälte hinter sich gelassen hatten. Bei dem vertrauten Geruch und den Geräuschen des dunklen Stalls fühlte er sich gleich etwas besser. Er kam oft hierher, auch wenn er nichts zu tun hatte, was selten vorkam. Auf einer Ranch gab es immer etwas zu tun - Holz hacken, Pferdegeschirr ausbessern, Tiere füttern: „Das bedeutet nicht, dass irgendetwas mit dir nicht in Ordnung ist, Hannah.“
Bitte sag es nicht, flehte er stumm. Bitte komm jetzt nicht auf
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