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Winter der Zärtlichkeit

Winter der Zärtlichkeit

Titel: Winter der Zärtlichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Miller
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den Gedanken, dass es besser für dich wäre, mit Tobias zurück nach Montana zu gehen.
    Das war ein selbstsüchtiger Wunsch, das wusste er. In Montana könnte Hannah wieder ein Stadtleben führen. Sie müsste nicht fünf Meilen auf einem Maultier reiten, um die Post zu bekommen. Sie müsste auch nicht jeden Wintermorgen das Eis in den Wassertrögen zerstoßen, damit die Rinder und Pferde trinken konnten. Es gäbe keine Hühner, die gefüttert werden müssten, und keine Arbeitskleidung, in der sie fast wie ein Mann aussah.
    Wenn Hannah Triple M verlassen würde, wüsste er nicht, wie es weitergehen sollte. Vor allem müsste er dann sein Versprechen brechen, auf Gabes Sohn und Frau aufzupassen. Aber das allein war es nicht. Da war noch so viel mehr.
    „Das ist noch nicht alles“, vertraute Hannah ihm an.
    Ohne etwas zu sagen, ging er von Stall zu Stall und betrachtete die verschlafenen Pferde, die irritiert in den Lichtstrahl seiner Laterne blinzelten. Er wollte Hannah genug Raum geben, um ihm zu sagen, was immer sie zu sagen hatte.
    „Was ist es?“, fragte er dann aber doch, als sie nicht antwortete.
    „Es geht um Tobias. Er hat mir gerade erzählt... er hat mir erzählt ...“
    Als Doss sich umdrehte, sah er Hannah in dem vom Mond erhellten Eingang stehen, von Silber übergossen, eine Hand an die Lippen gepresst.
    Er ging zu ihr, stellte die Laterne ab und fasste sie mit beiden Händen an den Schultern. „Was hat er dir erzählt, Han- nah?“
    „Doss, er sieht Gespenster.“
    „Was für Gespenster?“
    „Einen Jungen.“ Viel zu fest für eine zierliche Frau umklammerte sie seinen Arm. Ihre Finger durch die dicke Kleidung zu spüren, stellte seltsame Dinge mit ihm an. „Doss, Tobias behauptet, einen Jungen in seinem Zimmer gesehen zu haben.“
    Prüfend sah Doss sich um. Er sah nichts als blankes, gefrorenes Land im Umkreis von vielen Meilen. „Das kann nicht sein“, sagte er.
    „Du musst mit ihm sprechen.“
    „Und ob ich mit ihm sprechen werde.“ Hastig lief Doss zum Haus zurück, so versessen darauf, mit Tobias zu sprechen, dass er gar nicht daran dachte, Hannah vor dem Wind zu schützen. Hannah musste ihre Röcke anheben, um mit ihm Schritt zu halten.
     

Heute
     
    „Erzähl mir von dem Jungen, den du in deinem Zimmer gesehen hast“, bat Sierra, nachdem sie das Grillhähnchen mit Kartoffelbrei, Bratensaft und gegrillten Maiskolben vertilgt hatten.
    Liam sah ihr über den Tisch hinweg direkt in die Augen, als er antwortete. „Er ist ein Geist“, erklärte er und wartete förmlich auf ihren Protest.
    „Vielleicht ein erfundener Spielkamerad?“, schlug Sierra vor. Dass Liam einsam war, das brachte ihr Leben mit sich. Nachdem ihr Vater sich in schäbigen Hinterhofkneipen in San Miguel zu Tode gesoffen hatte, waren sie wie Zigeuner durch Amerika gezogen. San Diego, North Carolina, Georgia und zuletzt Florida.
    „Ich kann nichts Erfundenes bei ihm entdecken“, widersprach Liam fest. „Er trägt komische Kleidung, so wie diese Kinder früher, wie man es im Fernsehen sieht. Er ist ein Geist, Mom. Akzeptier das.“
    „Liam ..."
    „Nie glaubst du mir!“
    „Ich glaube dir immer“, sagte Sierra ruhig. „Aber du musst zugeben, was du erzählst, klingt ziemlich ungewöhnlich.“ Wieder dachte sie an die Teekanne. Wieder schob sie ihre Erinnerung zur Seite.
    „Ich lüge nie, Mom.“
    Als sie seine Hand nahm, um sie zu tätscheln, zog er sie zurück, presste störrisch die Lippen aufeinander und sah sie durchdringend an. Sie versuchte es noch einmal. „Ich weiß, dass du nicht lügst, Liam. Aber du bist in einem fremden neuen Haus und vermisst deine Freunde und ...“
    „Und ich darf nicht mal nachsehen, ob sie mir E-Mails geschrieben haben!“, schrie er.
    Sierra seufzte, stützte die Ellbogen auf den Tisch und rieb sich die Schläfen. „Gut“, lenkte sie ein. „Du kannst ins Internet gehen. Sei aber bitte vorsichtig. Der Computer ist teuer, und wir können es uns nicht leisten, ihn zu reparieren.“
    Glücklich strahlte ihr Sohn sie an. „Ich mache nichts kaputt“, versprach er.
    Ob er sie gerade ausgetrickst hatte und die ganze Geistergeschichte nur eine Erfindung gewesen war, um sie um den Finger zu wickeln?
    Im nächsten Moment schämte Sierra sich für diesen Gedanken. Liam war grundehrlich. Er glaubte wirklich, ein anderes Kind in seinem Schlafzimmer gesehen zu haben. Sie sollte morgen früh seine neue Ärztin in Flagstaff anrufen und herausfinden, was sie aus medizinischer Sicht

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