Winter der Zärtlichkeit
auf. Ihr Blick fiel auf die Uhr über dem Kamin, in dem das Feuer loderte.
Warum hatte sie es überhaupt angemacht? Sie war hundemüde und musste nun entweder einen Eimer Wasser über das Feuer schütten oder warten, bis es von selbst ausging. Da die erste Methode eine große Sauerei zur Folge hätte, blieb ihr nichts anderes übrig, als zu warten.
„Beeil dich“, sagte sie zu Liam, der sich in der Sekunde, in der Sierra aufgestanden war, wieder auf den Stuhl hatte plumpsen lassen. „In einer halben Stunde ist Schlafenszeit.“
„Aber ich habe einen Mittagsschlaf gemacht“, erklärte Liam, während er gleichzeitig tippte.
„Mach bald Schluss.“ Sierra verließ das Arbeitszimmer, ging die Treppe hoch in Liams Schlafzimmer und suchte seinen
Lieblingspyjama, der noch in einem der Koffer sein musste. Sie wollte den Pyjama ein paar Minuten auf die Heizung legen, um ihn aufzuwärmen.
Irgendetwas zog sie jedoch zum Fenster. Und dann sah sie, dass in Travis’ Wohnwagen die Lichter brannten und sein Auto daneben parkte. Anscheinend war er nicht lange in der Stadt oder wo auch immer gewesen.
Warum machte sie der Gedanke so fröhlich?
1919
Hannah stand im Türrahmen von Tobias’ Zimmer und betrachtete ihren schlafenden Sohn. Er sah so friedlich aus, wie er dalag. Aber sie wusste, dass ihn manchmal schlimme Albträume quälten. Gestern erst war er in den frühen Morgenstunden in ihr Bett gekrabbelt, hatte sich so nah an sie gekuschelt, wie sein Kleiner-Jungen-Stolz es zuließ, und geflüstert, dass sie niemals sterben dürfe.
Das hatte sie so aus der Fassung gebracht, dass sie einen Moment nicht sprechen konnte.
Als sie ihn jetzt so daliegen sah, verspürte sie den Wunsch, ihn aufzuwecken, ganz fest an sich zu drücken und ihn davor zu bewahren, kleine Jungen zu sehen, die es nicht gab.
Er war einsam, das war alles. Tobias brauchte andere Kinder um sich. Zwar besuchte er eine weit entfernt liegende Schule, wenn sie nicht wegen Schneefalls geschlossen blieb, aber es gab nur ein Klassenzimmer und insgesamt sieben Schüler, die alle älter waren als er.
Vielleicht sollte sie wirklich mit ihm zurück nach Montana ziehen. Dort hatte er Cousins und Cousinen. Und sie würden in einer Stadt wohnen, wo es Läden gab und eine Bibliothek und sogar ein Lichtspielhaus. Im Frühjahr könnte er Fahrrad fahren lernen und mit anderen Jungs Baseball spielen.
Hannah fühlte einen furchtbaren Druck in ihrer Brust. Gabe hätte gewollt, dass sein Sohn so wie er auf der Ranch auf- wuchs, ein Teil dieses gefährlichen, rauen Landstrichs wurde und lernte, auf seinem Pferd verirrte Rinder einzufangen. Natürlich hatte Gabe nicht damit gerechnet, jung zu sterben. Nach dem Krieg hatte er mit Hannah eine große Familie gründen wollen. Dann hätte Tobias viele Spielkameraden gehabt.
Eine Träne lief über Hannahs Wange, die sie hastig wegwischte.
Gabe war tot, und sie würde keine weiteren Kinder mehr bekommen.
Sie hörte Doss die Treppe hochsteigen. Eigentlich wollte sie nicht von ihm im Schlafzimmer ihres Sohnes gesehen werden. Er fand, dass sie sich viel zu viele Sorgen um Tobias machte und ihn keine Sekunde aus den Augen ließ.
Aber wie sollte ein Mann verstehen, was es hieß, Mutter zu sein und ein Kind großzuziehen?
Hannah schloss ihre Augen und rührte sich nicht.
Kurz darauf blieb Doss hinter ihr stehen. Sie konnte fühlen, wie unsicher er war, aber auch welche Hitze und Kraft von seinem Körper ausging.
„Lass das Kind schlafen, Hannah“, sagte er leise.
Vorsichtig schloss sie die Tür und drehte sich in dem dunklen Flur zu ihm um. Er trug ein Buch unter dem Arm und eine Laterne in der anderen Hand.
„Es ist, weil er einsam ist“, erklärte sie.
Und Doss verstand sofort, dass sie über Tobias’ Halluzinationen sprach. „Kinder erfinden nun mal Sachen“, sagte er. „Und einsam zu sein gehört zum Leben. Dieses Tal muss der Mensch durchschreiten und nicht davor weglaufen.“
Ein McKettrick lief niemals davon, das musste Doss nicht ausdrücklich betonen und sie auch nicht. Allerdings war sie keine McKettrick, zumindest keine geborene. Oh, sie schrieb zwar diesen Namen, wann immer sie etwas unterzeichnen musste, aber sie hatte an dem Tag aufgehört, sich als eine McKettrick zu fühlen, an dem sie Gabe zu Grabe getragen hatten.
Warum, das wusste Hannah nicht. Gabe war so stolz auf seinen Namen gewesen, so wie alle anderen McKettricks auch.
„Hast du dir jemals gewünscht, woanders zu leben?“,
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