Winter der Zärtlichkeit
frische Milch im Kühlschrank. In der Mikrowelle war die heiße Schokolade in weniger als einer Minute fertig.
„Ich finde es schön hier“, sagte Liam. „Schöner als alles, wo wir bisher waren.“
Sierras Herz wurde schwer. „Findest du das wirklich? Wa- rum?
Nach einem Schluck Schokolade zuckte er auf seine typische Art mit den Schultern. „Es ist wie ein richtiges Zuhause", erklärte er mit einem kleinen Milchbart um die Lippen. „Viele Leute haben hier schon gelebt. Und sie alle waren McKet- tricks - so wie wir.“
Den Stich, den Sierra spürte, verbarg sie hinter einem Lächeln. „Überall, wo wir wohnen, ist unser richtiges Zuhause, weil wir beide zusammen sind.“
Liam betrachtete sie mit einem liebevoll skeptischen, beinahe geduldigen Ausdruck. „Wir hatten noch nie so viel Platz. Wir hatten auch noch keinen Stall mit Pferden. Und wir hatten noch nie Geister.“ Als er das letzte Wort flüsterte, erschauerte er wohlig.
Gerade als Sierra nach einem Weg suchte, um noch einmal auf das Thema Geister zu sprechen zu kommen, drang schwache, sanfte Klaviermusik an ihr Ohr.
5. KAPITEL
„H örst du das auch?“, fragte Sierra Liam.
Mit gerunzelter Stirn verlagerte er sein Gewicht, um einen Schluck Kakao zu trinken. „Was soll ich hören?“
Die klagende Melodie erklang noch immer leise aus dem vorderen Zimmer.
„Nichts“, log Sierra.
Liam musterte sie verwirrt und argwöhnisch.
„Trink deinen Kakao aus“, forderte sie ihn auf. „Es ist spät.“
Die Musik brach ab, und sie fühlte große Erleichterung und zugleich eine merkwürdige Traurigkeit, die sie auf den viel zu lebhaften Traum vorhin im Sessel zurückführte.
„Was hast du gemeint, Mom?“, bohrte Liam.
„Ich dachte, ich würde ein Klavier hören“, räumte sie ein. Ihr Sohn würde sowieso keine Ruhe geben, bis sie ihm die Wahrheit erzählt hatte.
Liam strahlte. „Dieses Haus ist echt cool. Ich habe auch den Freaks - den anderen Kindern - erzählt, dass es hier spukt. Und Tante Allie auch.“
Mit zittrigen Fingern setzte Sierra die Tasse ab. „Wann hast du mit Allie gesprochen?“
„Sie hat mir eine E-Mail geschickt, und ich habe geantwortet.“
„Na großartig“, stöhnte Sierra.
„Hätte mein Dad wirklich gewollt, dass ich in San Diego aufwachse?“, erkundigte sich Liam mit ernster Stimme.
Natürlich hatte Allie ihn auf diese Idee gebracht! Sierra fand Adams Schwester eigentlich nicht unsympathisch, aber jetzt hatte sie eindeutig eine Grenze überschritten. Allie hatte kein Recht, Liam hinter ihrem Rücken zu manipulieren.
„Dein Vater hätte gewollt, dass du bei mir aufwächst“, erwiderte Sierra fest, und das war die Wahrheit, egal, wie sehr Adam sie hintergangen hatte.
„Tante Allie sagt, meine Cousinen würden mich mögen“, fuhr Liam fort.
Liams „Cousinen“ waren in Wahrheit seine Halbschwestern. Aber erst einmal wollte Sierra ihm diesen Teil der Geschichte noch ersparen. Sie hoffte inständig, dass Allie sich ebenfalls daran hielt. Adam hatte Sierra damals erzählt, dass er geschieden wäre. Und sie hatte sich sofort rettungslos in ihn verliebt. Sechs Monate später, als sie sein Baby unter ihrem Herzen trug, fand sie heraus, dass er noch immer mit seiner Frau und seinen Kindern zusammenlebte, wenn er nicht unterwegs war. Es war Allie, die ernste und besorgte Allie, die Sierra in San Miguel ausfindig machte und ihr die Wahrheit erzählte.
Niemals würde sie die Familienfotos vergessen, die ihr Allie an diesem Tag gezeigt hatte. Schnappschüsse von Adam, der seine lächelnde Frau Dee im Arm hielt. Die zwei kleinen Mädchen in gleichen Kleidchen standen neben ihnen, mit weit geöffneten, unschuldigen und vertrauensvollen Augen.
„Vergiss ihn, Kindchen“, hatte Hank ihr unbekümmert empfohlen, als sie ihm, in Tränen aufgelöst, die beschämende Geschichte erzählte. „Daraus wird nix mehr.“
Sie schrieb Adam sofort, doch ihr Brief kam eines Tages ganz zerfleddert von den vielen Nachsendungen zurück. Und bei den vielen Telefonnummern, die sie von ihm hatte, ging nie jemand ran.
Acht Wochen später brachte Sierra Liam zur Welt, zu Hause, unterstützt von Hanks Langzeitgeliebter Magdalena. Drei Tage nach der Geburt brachte Hank eine amerikanische Zeitung mit und schleuderte sie ihr ohne Kommentar in den Schoß.
Von stiller, wachsender Furcht erfasst, blätterte sie langsam die Seiten um, bis sie den Bericht über Adam Douglas’ Tod entdeckte. Er war am Stadtrand von Caracas erschossen
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